Thema
Warum wird der „Verfassungsschutz“ eigentlich nicht aufgelöst?
Je mehr über die Verstrickung der Geheimdienste und anderer staatlicher Stellen in den Terror der faschistischen Mörderbande NSU ans Tageslicht kam, desto lauter wurde der Ruf nach Auflösung des Inlandsgeheimdienstes „Verfassungsschutz“.
Und umso eifriger wird Besserung gelobt. Jetzt hat der Bundestag sogar eine „Reform“ beschlossen – die aber das Gegenteil von Besserung bedeutet: Der Schwerpunkt des Gesetzes liegt auf der praktisch unbegrenzten Überwachung und Auswertung der Internet-Kommunikation durch die Geheimdienste.1
Zwei Drittel der Bevölkerung haben nach einer aktuellen Umfrage nur geringes oder sogar sehr geringes Vertrauen in den Inlandsgeheimdienst.2 Und das trotz seines euphemistischen Namens „Verfassungsschutz“ (VS). Euphemismus, so nennt man es, wenn ein Begriff den wahren Charakter verhüllt bzw. beschönigt.
Neben der wachsenden Wut über die allgegenwärtige Bespitzelung durch die Geheimdienste sämtlicher Länder empört die Menschen vor allem die Verstrickung in den faschistischen Terror.
Mindestens elf Menschen fielen im Zeitraum 2000 bis 2007 dem rund 130 Personen umfassenden NSU-Netzwerk zum Opfer. Nur fünf seiner Mitglieder sind überhaupt angeklagt. Drei Angeklagte sind sogar auf freiem Fuß. Dieses Netz war durchsetzt mit V-Leuten des „Verfassungsschutzes“. Tino Brandt, V-Mann und Schlüsselfigur in der faschistischen Terrorszene in Thüringen, berichtete bei seiner Vernehmung im Rahmen des NSU-Prozess im Juni 2014, dass er Geld des „Verfassungsschutzes“ an den NSU weitergegeben hat. Der Präsident des sächsischen „Verfassungsschutzes“ räumte inzwischen ein, dass sein Amt immer wieder Hinweise auf den Aufenthaltsort bekam. Kein Wunder, dass das Lügengebäude der bedauerlichen „Ermittlungspannen“ bröckelt. Nicht einmal jeder vierte Bundesbürger glaubt heute noch, dass der „Verfassungsschutz“ überhaupt gegen Faschisten so entschieden vorgeht wie gegen andere Kräfte.2 Viele sind bereits überzeugt, dass einer oder mehrere der NSU-Täter Leute des „Verfassungsschutzes“ waren. So Mehmet Daimagüler, einer der Anwälte der NSU-Opfer.3
„Verfassungsschutz“ – kein Ausrutscher
Der Inlandsgeheimdienst ist integraler Bestandteil des staatlichen Gewaltapparats und kein peinlicher Ausrutscher. Zu diesem Apparat gehört die Bundeswehr mit heute nur noch bezahlten Berufssoldaten, die Bundespolizei (früher Bundesgrenzschutz), die Polizeien der Länder, die Bundes- und Landeskriminalämter und der Ausbau und die engere Zusammenarbeit der Geheimdienste wie VS, Bundesnachrichtendienst und Militärischer Abschirmdienst. In die Zusammenarbeit sind auch private Sicherheitsdienste und das Technische Hilfswerk eingebunden. Die Aufgabe dieses Apparats ist, unter allen Umständen den Schutz der sogenannten „freiheitlich-demokratischen“ Grundordnung zu gewährleisten. „Freiheitlich-demokratisch“ ist dabei eine ähnlich heuchlerische Charakterisierung wie „Verfassungsschutz“. Erfreulicherweise nennen aber inzwischen immer mehr Menschen diese Grundordnung wieder bei ihrem richtigen Namen: Kapitalismus! Es ist weder frei noch demokratisch, wenn die Konzerne und Monopole, die zu den 500 größten der Welt gehören eine allseitige Diktatur über die gesamte Gesellschaft errichtet haben.
Eine wachsende Kapitalismuskritik manifestiert sich auch in der aktuellen Belebung gewerkschaftlicher Streiks und ihrer bemerkenswert breiten Akzeptanz in der Bevölkerung. Eine zunehmende Politisierung und Radikalisierung dieser Kämpfe bereitet den Herrschenden Kopfschmerzen. Eine Revolutionierung und das Erstarken revolutionärer Kräfte zu verhindern, das ist das Kerngeschäft des Inlandsgeheimdienstes. Das Hauptfeld seiner Arbeit liegt in der umfassenden Bespitzelung der Bevölkerung und der antikommunistischen Diffamierung und Unterdrückung fortschrittlicher und insbesondere revolutionärer Kräfte wie der MLPD oder ihres Jugendverbands REBELL. Er liefert mit seinen Berichten die zentralen Stichwörter für den modernen Antikommunismus. Das Perfide dabei ist, dass die Geheimdienste für ihre Behauptungen, Lügen und Verdrehungen keinerlei Beweise vorlegen müssen. Dafür können sie auch nicht belangt werden. Sie werden sogar als angebliche „Tatsachen“ über zahlreiche Medien, Schulen, Behörden und Bildungseinrichtungen millionenfach verbreitet. Sie richten das System der kleinbürgerlichen Denkweise zur Manipulation der öffentlichen Meinung aus.
Tief verwoben
Die Einflussnahme der „Schlapphüte“ dokumentiert aktuell ein Fall aus Chemnitz. Von Mitte Juni an sollte die Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ an der Technischen Universität (TU) Chemnitz gezeigt werden. Sie ist bundesweit in 75 Einrichtungen präsentiert worden, in Universitäten, Rathäusern und im Abgeordnetenhaus des Bundestages. Aber die TU Chemnitz entzog zwei Tage vor Beginn die Erlaubnis für die Ausstellung mit der Begründung, die 22 Schautafeln ließen „keine umfängliche wissenschaftliche Herangehensweise“ erkennen.
Ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Die „Süddeutsche Zeitung“ vom 24. Juni berichtete im Zusammenhang mit der Absage von der traditionell engen Verbindung der TU mit dem „Verfassungsschutz“. Dieser „hat in der Vergangenheit tatkräftige – wissenschaftliche – Unterstützung seitens der TU Chemnitz bekommen, in Person des Politikwissenschaftlers Eckhard Jesse. Dessen umstrittene Extremismustheorie fand Niederschlag in Publikationen der Behörde.“ Ob diese Unterstützung tatsächlich der Vergangenheit angehört, darüber lässt sich rätseln.
Eine Schlüsselfigur
Eckhard Jesse war bis 2014 Direktor des Instituts für Politikwissenschaften an der TU Chemnitz. Er übt eine Scharnierfunktion zwischen den Geheimdiensten und einem weit verzweigten Netz der antikommunistischen Meinungsmanipulation und Unterdrückung aus. Einerseits tritt Jesse als Referent für den Geheimdienst auf, seine Publikationen sind teilweise zum Behördengebrauch bestimmt und werden vom Bundesinnenministerium aufgekauft.4 Er ist Referent bei Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung, dem Propaganda-Arm des VS. In Sachsen war die Landeszentrale immerhin eine der Paten der rassistischen und antikommunistischen „Pegida“-Bewegung. Jesse wirkt als Vertrauensdozent der Hanns-Seidel-Stiftung der CSU, Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, Mitglied zahlreicher Beiräte, Kuratorien und Vorstände.
Extrem unwissenschaftlich
Jesse ist ein Repräsentant der berüchtigten „Extremismustheorie“, die er selbst wie folgt darlegt: „Die Extremismustheorie geht davon aus, dass die Links- und Rechtsextremisten ei-nerseits weit voneinander entfernt und andererseits dicht benachbart sind, wie die Enden eines Hufeisens.“5
Diese Theorie kam auf, als der alte antikommunistische Kampfbegriff „linksradikal“ zunehmend an abschreckender Wirkung verlor. „Radikal links“ – das fand sogar wachsende Attraktion. Deshalb wurde vor einigen Jahren der neue Be- griff des „Linksextremismus“ erfunden. Seine pseudowissenschaftliche Inszenierung dient vor allem der Gleichsetzung von Sozialismus und Faschismus. Diese Methode der Gleichsetzung revolutionärer und kommunistischer Freiheitskämpfer mit faschistischen Mordbanden entwickelt sich gerade zum Exportschlager. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan praktiziert inzwischen die Gleichsetzung der kurdischen Arbeiterpartei PKK und des islamistisch-faschistischen IS. Tatsächlich waren und sind die Kommunisten aber die konsequentesten und erfolgreichsten Gegner des Faschismus. Sozialismus/Kommunismus, das bedeutet nicht nur dem Faschismus die Wurzeln abzutrennen, sondern Ausbeutung und kapitalistische Unterdrückung überhaupt zu beseitigen.
Anti-Antikommunismus-Bewegung
Als Teil des auch in Deutschland spürbaren Linkstrends entwickelt sich auch eine Anti-Antikommunismus-Bewegung – weit über die MLPD hinaus. Sie nimmt den Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ als eine der Schaltzentralen des Antikommunismus ins Visier. „Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein!“ – das schlussfolgern zum Beispiel die Humanistische Union, die internationale Liga für Menschenrechte und der Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen in ihrem gleichnamigen Memorandum.6
Seit die Bundesregierung dem „Verfassungsschutz“ das Recht einräumte, über die Gemeinnützigkeit von Organisationen und Vereinen zu entscheiden, sind seine „Berichte“ regelmäßig Gegenstand von Gerichtsverhandlungen.
„Verfassungsschutz“ in der Krise
Immer öfter geraten seine und von ihm beeinflusste Publikationen ins Abseits. Nach einem Prozess der MLPD gegen das Buch „Linksextrem – Deutschlands unterschätzte Gefahr?“ nahm der Verlag es aus dem Handel. Autor war Dr. Rudolf van Hüllen, langjähriger Referatsleiter im Verfassungsschutz.7 Der Abschnitt seines Buches zur MLPD strotzte nur so von frei erfundenen „Tatsachenbehauptungen“ und einer Fülle beleidigender Aussagen.
„So darf natürlich die Behauptung nicht fehlen, dass es in der MLPD ,Säuberungen‘ gäbe“, berichtete der Anwalt der MLPD im damaligen Verfahren. „Aber nicht irgendwelche ,Säuberungen‘, sondern ,ständige‘ Säuberungen, ja sogar ,periodische Säuberungs- und Ausschlusskampagnen‘. Als ,Beweis‘ dafür wird in der Fußnote 90 aus einem Interview mit Stefan Engel zitiert. In diesem Interview berichtete er über den Aufbau einer neuen MLPD-Landesebene und führte aus: ,Insgesamt haben seit Frühjahr 2006 mehr als 50 Prozent unserer Genossinnen und Genossen neue Aufgaben übernommen!‘ Eigentlich sollte man denken, dass die Übernahme neuer und meist höherer Verantwortung das genaue Gegenteil einer ,Säuberung‘ sei. Es ist offensichtlich, dass die Autoren darauf spekuliert hatten, dass sich niemand mit ihren ,Quellen‘ und ,Beweisen‘ befasst. Tut man das aber, bleibt nur hohle Luft übrig.“
Vor diesem Hintergrund verzichten inzwischen die meisten Landesverfassungsschutzberichte auf allzu dreiste Lügen über die MLPD. Vor allem im Verfassungsschutzbericht von NRW wird die MLPD auf sieben Seiten ausführlich behandelt: „Die MLPD setzte insbesondere mit der von ihr maßgeblich initiierten Gründung der sogenannten ,Umweltgewerkschaft‘ ihre Strategie fort, sich gesellschaftlich relevanten Themen zu widmen, die in der Öffentlichkeit auf Zustimmung treffen und die Partei für politisch interessierte jüngere Menschen attraktiv machen.“ (S. 85) Bei jeder anderen Partei würde man sagen, das ist doch das Kerngeschäft einer Partei – bei der MLPD nennt der VS das „Instrumentalisierung“. Auch das Buch „Katastrophenalarm!“ findet Erwähnung: „Das Buch legt zwar faktenbasiert, jedoch in typisch kommunistischer Dialektik dar, dass die weltweiten Umweltprobleme die Folge marktliberalen Wirtschaftens kapitalistischer Gesellschaften sind, denen nur durch revolutionäre Veränderungen im Sinne sozialistischer beziehungsweise kommunistischer Ideologie begegnet werden kann.“ (S. 101) Anders als die bürgerlichen Parteien nimmt die MLPD den begonnenen Umschlag in eine globale Umweltkatastrophe tatsächlich ernst und entwickelt Lösungsstrategien für das Überleben der Menschheit. Dazu gehört selbstverständlich auch die Förderung des aktiven Widerstand gegen die Umweltzerstörung als Teil der Vorbereitung revolutionärer Veränderungen.
„Verfassungsschutz“ auflösen!
Die Bevölkerung würde den „Verfassungsschutz“ am liebsten abschaffen. Nur die verschwindend geringe Minderheit des alleine herrschenden internationalen Finanzkapitals hält an diesem krisengeschüttelten Dienst fest und lässt ihm von der Regierung sogar weitere Befugnisse einräumen.
Die Auflösung des „Verfassungsschutzes“ jetzt durchzukämpfen wäre deshalb ein wichtiges Signal im Kampf um demokratische Rechte und Freiheiten! Ebenso wie ein Verbot aller faschistischer Organisationen und ihrer Propaganda. Am ausbeuterischen, unterdrückerischen und umweltzerstörerischen Charakter der Gesellschaft würde beides aber nichts ändern. Der Kapitalismus kann und wird nicht auf Geheimdienste irgendeiner Art verzichten. Die Beseitigung seiner Diktatur erfordert eine radikale Veränderung – als Teil der internationalen sozialistischen Revolution.