Thema
Willi Dickhut: Hegels „Logik“ als Höhepunkt und Ende der klassischen Philosophie
Erstveröffentlichung. Willi Dickhut (1904–1992) war Vorkämpfer und Vordenker der MLPD. Seine Fähigkeit zu einem selbständigen und schöpferischen marxistisch-leninistischen Denken in der immer höheren Einheit von Theorie und Praxis erwarb er sich vor allem durch die Beherrschung der dialektischen Methode. Dazu schulte er sich – als Arbeiter ohne akademische Vorbildung – auch durch selbständige naturwissenschaftliche und philosophische Studien. So verfasste er in den ersten Nachkriegsjahren eine kurze philosophische Schrift über die Bedeutung des bürgerlichen Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831).
Die Originalfassung dieser Schrift von Willi Dickhut wird in dieser „Roten Fahne“ erstmals veröffentlicht. Die Fettierungen entsprechen den Hervorhebungen in den Originalzitaten. Die Zitate aus den Lenin-Werken sowie die Quellen-Angaben stimmen mit den heute vorliegenden Standardwerken überein.
Auf der Funktionärskonferenz der KPD am 31.3.1946 in Solingen-Wald sprach der Genosse U. Wohlbold in der Diskussion über Kultur und erklärte die Entwicklung von Schopenhauer über Hegel zu Nietzsche als eine einzige Linie reaktionärer Philosophie. Das ist eine vollständig falsche Beurteilung Hegels.
Die klassische Philosophie war eine revolutionäre Philosophie. Es war die Philosophie des aufstrebenden Bürgertums. Hegel brachte die klassische Philosophie auf den Höhepunkt und zum Abschluss. H. Heine sagt darum durchaus richtig: „Unsere philosophische Revolution ist beendet. Hegel hat ihren großen Kreis geschlossen.“1 Hegel ist sehr oft missverstanden worden, sowohl von den fortschrittlichen wie von den reaktionären Kräften der Gesellschaft. Hegels Satz „Alles was wirklich ist, ist vernünftig, und alles was vernünftig ist, ist wirklich“2 wurde von den beschränkten Regierungen und Reaktionären als Ausdruck der Erhaltung des Bestehenden aufgefasst und begrüßt und deshalb von den ebenso beschränkten Liberalen verurteilt, obwohl Hegel sagte: „Die Wirklichkeit (erweist) sich in ihrer Entfaltung als die Notwendigkeit.“3 Daraus ist zu schließen: Alles was besteht, ist wert, dass es zu Grunde geht! Darin liegt eben der revolutionäre Kern der Hegelschen Philosophie, dass es nichts Endgültiges, Feststehendes im menschlichen Denken und Handeln geben kann, sondern alles in Bewegung, in Fluss, in Entwicklung sich befindet.
Das wird von Friedrich Engels unterstrichen: „Marx war und ist der einzige, der sich der Arbeit unterziehen konnte, aus der Hegelschen Logik den Kern herauszuschälen, der Hegels wirkliche Entdeckung auf diesem Gebiet umfaßt, und die dialektische Methode, entkleidet von ihren idealistischen Umhüllungen, in der einfachen Gestalt herzustellen, in der sie die allein richtige Form der Gedankenentwicklung wird.“4
Bedeutet das, dass Marx damit den Idealismus Hegels anerkennt? Im Gegenteil! Obwohl der philosophische Idealismus eine notwendige Voraussetzung des modernen Materialismus ist (darin liegt seine Bedeutung) – der Idealismus negierte den ursprünglichen, naiven Materialismus, die Negation des Idealismus brachte als Synthese den dialektischen Materialismus – kritisierte Marx den Idealismus Hegels, schätzte aber seine Dialektik sehr hoch. So schreibt Marx im „Kapital“:
„Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat.“5
Diese Dialektik, die große theoretische Leistung Hegels, vor dem Idealismus zu retten, loszulösen und materialistisch anzuwenden, war das Verdienst von Marx und Engels, was Engels im Vorwort zum „Anti-Dühring“ selbst zum Ausdruck bringt: „Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinübergerettet hatten.“6
Lenin teilte die Auffassung von Marx und Engels über Hegel. Trotz aller Hochschätzung Hegels betonte Lenin zugleich: „Hegels Logik darf man in ihrer gegebenen Form nicht anwenden; man darf sie nicht als Gegebenes nehmen. Man muß ihr die logischen (gnoseologischen7) Nuancen entnehmen und sie von der Ideenmystik reinigen: das ist noch eine große Arbeit.“8 Daraus geht hervor, dass man aus der mystischen Gedankenfülle der idealistischen Philosophie Hegels das Richtige, die wahren Gedanken, d. h. die das Sein, die Wirklichkeit objektiv widerspiegeln, heraussuchen und verwerten muss.
Und darin liegt der Fehler des Genossen U. Wohlbold, der die idealistischen Schrullen und Mystifikationen, d. h. die reaktionäre Hülle, aber nicht den revolutionären, den dialektischen Kern der Hegelschen Philosophie sieht. Lenin verweist darauf, dass er sich bemühe, „Hegel materialistisch zu lesen: Hegel ist der auf den Kopf gestellte Materialismus (nach Engels), d. h., ich lasse den lieben Gott, das Absolute, die reine Idee etc. größenteils beiseite.“9 Der Genosse Wohlbold aber schüttet das Kind mit dem Bade aus; er verwirft mit der reaktionären faulen idealistischen Hülle gleichzeitig den revolutionären dialektischen Kern. Lenin sagt darum über einzelne Gedankengänge Hegels: „Daraus muss man zunächst die materialistische Dialektik herausschälen. Es sind aber zu 9/10 Schale, Schutt.“10 Das ist die einzig richtige Stellungnahme zu Hegels Philosophie. Der Kern ist wichtiger als die Hülle, denn er birgt in sich die Entwicklung. Der materialistische Dialektiker muss es verstehen, den genialen Gedanken zu finden und herauszuschälen, während er den reaktionären Idealismus und Mystizismus hinauswirft. Das hat Lenin mit Hegels Philosophie gemacht. Der Genosse Wohlbold macht es umgekehrt, er hebt den reaktionären Idealismus und die mystische Hülle der Hegelschen Philosophie hervor und verwirft mit ihnen gleichzeitig den wahren Kern, den genialen Gedanken der Philosophie des großen Denkers. Das ist sein Fehler.
Bevor wir Hegels Werke studieren, sollten wir uns Lenins Stellungnahme zu eigen machen, der einzelne Abschnitte und auch ganze Abschnitte zitiert und daraus das Hervorragende, mit dem er einverstanden ist, unterstreicht, die Fehler kritisiert und berichtigt, die mystischen Formulierungen in gemeinverständliche Sprache übersetzt, sie materialistisch verarbeitet und entsprechend deutet und die Ergebnisse zusammenfasst. Durch dialektisch-materialistische Analyse der Hegelschen Philosophie und Zusammenfassen des Konkreten bekommen wir erst das richtige Bild (Analyse und Synthese).
Hegels Dialektik enthielt einen entscheidenden Fehler, von dem Lenin schreibt: „Dialektisch ist nicht nur der Übergang von der Materie zum Bewußtsein, sondern auch von der Empfindung zum Denken etc. Der Anhänger der Dialektik Hegel vermochte nicht den dialektischen Übergang von der Materie zur Bewegung, von der Materie zum Bewußtsein zu begreifen – besonders das zweite nicht. Marx hat den Fehler (oder die Schwäche?) des Mystikers berichtigt. Wodurch unterscheidet sich der dialektische Übergang vom nichtdialektischen? Durch den Sprung. Durch den Widerspruch. Durch das Abbrechen der Allmählichkeit. Durch die Einheit (Identität) von Sein und Nichtsein.“11
Bei Hegel ist die Dialektik des Gedankens keine Widerspiegelung der Dialektik des Seins, sondern bei ihm ist die Dialektik die Selbstentwicklung des Begriffs. Die Natur stellt im „Hegelschen System nur die ,Entäußerung‘ der absoluten Idee vor“.12 Abgesehen von dem idealistischen Inhalt bedeutet die Hegelsche Dialektik eine wahrhaft revolutionäre Form, was Lenin veranlasst, zu erklären:
„In der Hegelschen Dialektik als der umfassendsten, inhaltsreichsten und tiefsten Entwicklungslehre sahen Marx und Engels die größte Errungenschaft der klassischen deutschen Philosophie. Jede andere Formulierung des Prinzips der Entwicklung, der Evolution, hielten sie für einseitig und inhaltsarm, für eine Entstellung und Verzerrung des wirklichen Verlaufs der (sich nicht selten in Sprüngen, Katastrophen, Revolutionen vollziehenden) Entwicklung in Natur und Gesellschaft.“13
Das Wertvolle der Hegelschen Philosophie ist hauptsächlich das, was sich auf die Dialektik bezieht. Das ist der Kern. Darum betont Lenin: „Man kann das ,Kapital‘ von Marx und insbesondere das I. Kapitel nicht vollständig begreifen, ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben.“14
Ein wesentliches Moment der Dialektik ist die Negation als Moment des Zusammenhangs, als Moment der Entwicklung mit der Erhaltung des Positiven. Dieser Gedanke kommt bei Hegel klar zum Ausdruck, wenn er sagt: „Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen – und um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist – ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebenso sehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist; daß also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert.“15
Diese Auffassung steht in voller Übereinstimmung mit der materialistischen. Noch viel klarer kommt das in der Anerkennung der Widersprüche als Triebfeder der Entwicklung zum Ausdruck. Im Gegensatz zum gemeinen Verstand, der die Identität (Übereinstimmung) für wesentlicher als den Widerspruch hält, erklärt Hegel den Widerspruch als das Primäre:
„Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit.“16
Hegel meint damit die geistige Selbstbewegung, die in Wirklichkeit nur die Widerspiegelung der Selbstbewegung der materiellen Welt ist. Lenin bezeichnet diese Selbstentwicklung, hervorgerufen durch die inneren Widersprüche, als „Salz der Dialektik“17.
Lenins Stellungnahme, d. h. die dialektisch-materialistische Beurteilung der „Logik“ Hegels, äußert sich zu folgenden Gedanken Hegels: „… das Gesetz ist daher nicht jenseits der Erscheinung, sondern in ihr unmittelbar gegenwärtig; das Reich der Gesetze ist das ruhige Abbild der existierenden oder erscheinenden Welt.“18
Lenins Beurteilung lautet: „Es ist dies eine ausgezeichnet materialistische und wunderbar treffende (mit dem Wort ,ruhige‘) Bestimmung. Das Gesetz nimmt das Ruhige – und darum ist das Gesetz, jedes Gesetz, eng, unvollständig, annähernd.“19
Ähnlich äußert sich auch die Beurteilung Lenins Hegel gegenüber in der Frage der Kausalität, des objektiven Zusammenhangs der Welt. Die Kausalität kennzeichnet nur die allgemein wechselseitige Abhängigkeit eines universellen Zusammenhangs, die wechselseitige Verkettung der Ereignisse, nur Kettenglieder des allumfassenden Weltzusammenhangs, der bruchstückweise, einseitig, unvollständig zum Ausdruck kommt. In Verbindung mit Hegels Logik erklärt Lenin hierzu:
„Bildung von (abstrakten) Begriffen und die Operationen mit ihnen schließen schon die Vorstellung, die Überzeugung, das Bewußtsein von der Gesetzmäßigkeit des objektiven Weltzusammenhangs in sich. Die Kausalität aus diesem Zusammenhang hervorzuheben ist unsinnig. Die Objektivität der Begriffe, die Objektivität des Allgemeinen im Einzelnen und im Besonderen zu leugnen ist unmöglich. Hegel ist folglich viel tiefer als Kant und andere, wenn er die Widerspiegelung der Bewegung der objektiven Welt in der Bewegung der Begriffe untersucht … so bedeutet schon die einfachste Verallgemeinerung, die erste und einfachste Bildung von Begriffen (Urteilen, Schlüssen etc.) die immer mehr fortschreitende Erkenntnis des tiefen objektiven Weltzusammenhangs durch den Menschen. Hier muss man den wirklichen Sinn, die wirkliche Bedeutung und Rolle der Hegelschen Logik zu suchen.“20
Die Lehre von der Konkretheit der Wahrheit, die Untersuchung der spezifischen Besonderheiten der Erscheinungen, der Analysierung, der Zergliederung, ohne den Zusammenhang außer Acht zu lassen, ist vom Marxismus vollständig aufgenommen. Der dialektische Materialismus lehnt das Dogma, den starren Schematismus ab, er verlangt die Untersuchung und Konkretisierung der gegebenen Situation, der gegebenen Erscheinung, des gegebenen Dinges.
Lenin entwickelt uns in seiner lebendigen Sprache ein anschauliches Bild der Hegelschen Dialektik:
„Ein Fluß und die Tropfen in diesem Fluss. Die Lage jedes Tropfens, sein Verhältnis zu den anderen; sein Zusammenhang mit den anderen; die Richtung seiner Bewegung; die Geschwindigkeit; die Linie der Bewegung – gerade, krumme, runde etc. – nach oben, nach unten. Die Summe der Bewegung. Die Begriffe als das Erfassen der einzelnen Seiten der Bewegung, der einzelnen Tropfen (= ,der Sachen‘), der einzelnen ‚Ströme‘ etc. Dies à peu près21 das Weltbild nach Hegels ,Logik‘ – freilich minus den lieben Gott und das Absolute.“22
Hiermit hebt Lenin in ein paar Sätzen das Revolutionäre der Hegelschen Philosophie hervor, um mit einem halben Satz das Reaktionäre darin abzutun. Das steht doch im wesentlichen Gegensatz zu der Auffassung des Genossen Wohlbold, für den die gesamte Philosophie Hegels reaktionär ist.
Marx entnahm der Hegelschen Philosophie alles Wertvolle und entwickelte das Entnommene in der Theorie des dialektischen Materialismus weiter. Das geschah vor allem durch die dialektische Untersuchung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, ihrer Entstehung, ihrer Entwicklungstendenzen, ihrer Widersprüche und der Unvermeidlichkeit ihres Übergangs in eine höhere, die sozialistische Gesellschaftsordnung. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn der Hegelschen Philosophie das revolutionäre Element fehlte.
Es würde zu weit führen, noch näher darauf einzugehen. Den großen Denker der klassischen Philosophie, der durch sein System die philosophische Revolution der bürgerlichen Gesellschaft zum Höhepunkt und Abschluss gebracht hat, auf eine Stufe zu stellen mit dem wirklichen Reaktionär Nietzsche, ist gleichbedeutend mit der Auffassung Lassalles, der alle Klassen außerhalb der Arbeiterklasse als „reaktionäre Masse“ ansah. Reaktionär sind alle bürgerlichen Philosophen nach Abschluss der Periode der klassischen Philosophie. Seitdem ist nur die marxistisch-leninistische Philosophie, der dialektische Materialismus, revolutionär. Die Beurteilung des Genossen Wohlbold ist keine dialektisch-materialistische, sondern eine mechanisch-materialistische. Die bürgerlichen Philosophen darf man nicht als eine einzige „reaktionäre philosophische Masse“ abtun, sondern nur vom Gesichtspunkt der historischen Entwicklung beurteilen.