Gewerkschaften und Klassenkampf

Mit dem REVOLUTIONÄREN WEG 11/12 wurde die grundsätzliche Ausrichtung der marxistisch-leninistischen Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit entwickelt. Er setzt sich sowohl mit opportunistischen wie linkssektiererischen Fehlern und Prägungen in dieser Arbeit auseinander, die zum Teil aus der Geschichte der deutschen Arbeiter- und kommunistischen Bewegung entstanden sind.

Im Vorwort heißt es: „Die Frage der Entwicklung und Herausbildung der Arbeiteroffensive entscheidet sich nicht nur am spontanen Kampfwillen der Arbeiter. Im Gegenteil, unter den heutigen Bedingungen können die bürgerlichen Medien, Presse und vor allem Fernsehen, gezielt für Verunsicherung sorgen. Um dem zu begegnen und Klarheit in die Köpfe zu bringen, ist es erforderlich, sich sowohl die historischen Zusammenhänge als auch die grundlegenden Erfahrungen in den letzten Jahren vor Augen zu führen. Dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten.“ (REVOLUTIONÄRER WEG 11/12, S.9-10)

Der RW 11 behandelt die Entstehung und Entwicklung der Gewerkschaften bis heute. Der RW 12 untersucht vor allem das Verhältnis zwischen gewerkschaftlichem Kampf und revolutionärem Klassenkampf. Er gibt eine ausgezeichnete Anleitung für die Arbeit als klassenkämpferisches Gewerkschaftsmitglied, Vertrauensmann oder Betriebsrat. Ausgangspunkt ist dabei, die Kämpfe der Arbeiter als Schule des Klassenkampfs zu verstehen.

Im Buchhandel erschienen unter:

Gewerkschaften und Klassenkampf

Erschienen: 1973

Gewerkschaften und Klassenkampf

Ausgabe Revolutionärer Weg:

Gewerkschaften und Klassenkampf

Am 29. April 1904, wurde Willi Dickhut in Schalksmühle geboren. Er starb am 8. Mai 1992 in Solingen - auf den Tag genau 47 Jahre nach der Befreiung vom Hitler-Faschismus. Willi Dickhut war Arbeiter, Marxist-Leninist, Widerstandskämpfer gegen den Hitler-Faschismus, Mitbegründer und Vordenker der MLPD.

Er hat lange Jahre das theoretische Organ REVOLUTIONÄRER WEG der MLPD geleitet. Sein Lebenswerk umfasst nahezu ein ganzes Jahrhundert Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland. Er hat den Stil der MLPD entscheidend mit geprägt. Ein besonderes Anliegen war ihm, kritisch-selbstkritisch und selbständig denkende und handelnde Kader zu entwickeln, als Damm gegen Dogmatismus, Revisionismus oder gar eine Entartung der Partei.

Leseprobe

Vorwort 9
Erster Teil: Die Entstehung der Gewerkschaften und ihre Bedeutung für die Arbeiterbewegung
I. Lehren aus der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung
1. Zwei Wege der Entstehung und Entwicklung der Gewerkschaften und ihre Folgen 15
2. Strömungen in der internationalen Gewerkschaftsbewegung 27
3. Die Spaltung der deutschen Gewerkschaftsbewegung 36
4. Die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition 48
Schlußfolgerungen 57
II. Die Gewerkschaften in Westdeutschland nach 1945
1. Gewerkschaftliche Einheit und Einheitsgewerkschaft 61
2. Die Macht des Gewerkschaftsapparats 71
3. Das Koalitions- und Streikrecht 89
Schlußfolgerungen 106
III. Die antigewerkschaftliche Politik der Ultra"linken"
1 Die Sozialfaschismustheorie und ihre Folgen 109
2. Die Theorie der "monopolkapitalistischen" Gewerkschaften 127
3. Alte Fehler im neuen Gewand: die RGO-Politik 139
Schlußfolgerungen 150
Zweiter Teil: Gewerkschaftskampf und revolutionärer Klassenkampf
IV. Der Kampf um soziale Reformen und die Rolle der Gewerkschaften
1. Zwei Ansichten vom Kampf um soziale Reformen 155
2. Sozialdemokratismus als soziale Hauptstütze der Bourgeoisie 167
3. Kampf um echte Reformen oder Illusionen über "systemverändernde Reformen" 179
Schlußfolgerungen 191
V. Das Problem der Mitbestimmung und der Klassenkampf
1. Mitbestimmung und Kontrolle als Realität und Illusion 193
2. Der Betrieb als Basis des Klassenkampfes 217
3. Die Bedeutung ökonomischer und politischer Streiks 237
Schlußfolgerungen 244
VI. Der Klassenkampf und die Rolle der Gewerkschaften
1. Die Etappen des Klassenkampfes und der Opportunismus 247
2. Die Bedeutung der gewerkschaftlichen und selbständigen Kämpfe der Arbeiterklasse 258
3. Die Aufgabe der Kommunisten in den Gewerkschaften 274
Schlußfolgerungen 281
VII. Vier Jahrzehnte Gewerkschaftskampf und Klassenkampf
1. Das Jahrzehnt der Konsolidierung der Monopole und zehn Jahre "Reformen von oben" 283
2. Die "Richtlinien über wilde Streiks" als Vorbereitung der Monopoloffensive 290
3. Die Monopoloffensive der siebziger Jahre 305
4. Die achtziger Jahre: Übergang zur Arbeiteroffensive 322
Schlußfolgerungen 350
Anhang Die Bedeutung der selbständigen Streiks 355
Anhang Chronik des Kampfes der Stahlarbeiter 1987/88 358

Das vorliegende Buch "Gewerkschaften und Klassenkampf" basiert auf der gleichnamigen Ausarbeitung, die 1973 im Theoretischen Organ der MLPD, REVOLUTIONÄRER WEG 11 und 12, veröffentlicht wurde.

Zweifellos haben sich seit dieser Zeit die Bedingungen zur Führung der Kämpfe der Arbeiter und zur Entwicklung des Klassenkampfes wesentlich verändert: Die Strukturkrise der kapitalistischen Wirtschaft, die damals noch nicht als solche erkannt werden konnte, prägt heute das Vorgehen der Monopole und hat Auswirkungen auf die Kämpfe der Arbeiter. Standen 1973 Forderungen nach Lohnerhöhungen und die Erkämpfung von Teuerungszulagen gegen die Preissteigerungen im Mittelpunkt, so sind es heute, unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit, vor allem Kämpfe zum Erhalt der Arbeitsplätze unter der zentralen Forderung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.

Die damalige SPD/FDP-Regierung wurde 1982 durch die Regierung von CDU/CSU und FDP ersetzt. Fast alle der ultra"linken" Gruppierungen, die damals Verwirrung unter den Arbeitern stifteten und nicht wenige vom Marxismus-Leninismus ab stießen, sind in der Zwischenzeit eingegangen oder haben sich selbst aufgelöst, ohne daß damit jedoch die entsprechenden Ideen aus der Welt geschafft wären.

Neue Fragen, wie die Umweltkrise oder die Gefahr eines atomaren Infernos, flossen in die Arbeiterbewegung ein. Die vielleicht wesentlichste Veränderung besteht darin, daß sich im Zusammenhang mit den Kämpfen der Arbeiter die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) gründen und entwickeln konnte und die Perspektive des Sozialismus in die Kämpfe hineintrug. Entspricht aufgrund dieser Veränderungen die vorliegende Ausarbeitung nicht mehr dem aktuellen Stand Das trifft mit Sicherheit nicht zu! Die Ausarbeitung wurde 1973 erstellt, um den im allgemeinen noch jungen und unerfahrenen Mitgliedern der revolutionären Organisation die Grundsätze marxistisch-leninistischer Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit deutlich zu machen und sie zum Parteiaufbau zu befähigen. Diese Grundsätze gelten heute im gleichen Maß und sind angesichts der Entwicklung der Kämpfe (zum Beispiel Duisburg-Rheinhausen) in gewissem Sinn noch wichtiger als 1973.

Die Frage der Entwicklung und Herausbildung der Arbeiteroffensive entscheidet sich nicht nur am spontanen Kampfwillen der Arbeiter. Im Gegenteil, unter den heutigen Bedingungen können die bürgerlichen Medien, Presse und vor allem Fernsehen, gezielt für Verunsicherung sorgen. Um dem zu begegnen und Klarheit in die Köpfe zu bringen, ist es erforderlich, sich sowohl die historischen Zusammenhänge als auch die grundlegenden Erfahrungen in den letzten Jahren vor Augen zu führen. Dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten. Aus diesem Grund wurden die angeführten Beispiele aus den siebziger Jahren im wesentlichen so belassen und an einigen Stellen mit Fußnoten versehen. Anhand der 15 Jahre Kampferfahrung, die dazwischenliegen, werden so die aufgeführten Grundfragen um so deutlicher und nicht durch unmittelbare, spontane Anforderungen "Überlagerte". Dennoch wurde auch der neueren Entwicklung Rechnung getragen: Ein weiteres Kapitel "Vier Jahrzehnte Gewerkschaftskampf und Klassenkampf" wurde neu ausgearbeitet. Darin wird der Zusammenhang der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem II. Weltkrieg mit der Entwicklung der Arbeiterkämpfe (bis 1988) untersucht und Entwicklung und Verlauf der bedeutendsten Kämpfe der siebziger und achtziger Jahre genauer geschildert. Auch dieses Kapitel kann aber nicht die Notwendigkeit ersetzen, unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Arbeiterbewegung, in der Festlegung und Durchführung einer konkreten Kampftaktik jeweils den eigenen Kopf zu gebrauchen.

Neben dieser Ergänzung und einzelnen Veränderungen im Text wurde das Buch mit einer Reihe von Abbildungen versehen, um das Verständnis (vor allem der historischen Erfahrungen) zu erleichtern. Die verwendeten Zitate der Klassiker des Marxismus-Leninismus wurden mit Quellenangaben versehen und entsprechend den neuesten Übersetzungen sprachlich korrigiert. Ebenso wurden weitere Zitate soweit sie noch zugänglich waren mit Quellenangaben versehen. Zur besseren Übersicht für den Leser wurden verschiedene Zwischenüberschriften eingefügt.

Stefan Engel

Juli 1988

Rezensionen, Studientipps und Briefwechsel

Fragen  der Einheitsgewerkschaft

12.6.78

Liebe Genossen!

Für eine Zellenschulung habe ich mich unter anderem mit dem Revolutionären Weg 11 befaßt (Entwicklung der Gewerkschaften nach 1945). Hier kommt meines Erachtens die Frage der Einheitsgewerkschaft nicht klar heraus. Ist der DGB nun nur eine »lose Dachorganisation« oder nicht? In der Satzung der IG Metall (1. 1. 78) steht unter § 32, »Mitgliedschaft zum DGB«: »Die IGM ist Mitglied des DGB. Sie hat dessen Satzung einzuhalten und seine Beschlüsse durchzuführen …«

Mir ist klar, daß es in der Praxis keine Einheitsgewerkschaft bei uns gibt. Aber liegt dies an der reformistischen Gewerkschaftsführung, oder wurde bereits bei der Gründung des DGB im Oktober 1949 dafür der Grundstein gelegt?

Eine zweite Frage habe ich zu dem auf Seite 47 des Revolutionären Wegs 11 zitierten Theodor Leipart. Über ihn heißt es im Handbuch für Vertrauensleute der IG Metall (Ausgabe 1973, S. 261/262):

»Vorsitzender des ADGB … versuchte 1933 unter völliger Verkennung der Ziele und Methoden der NS-Diktatur den organisatorischen Fortbestand der Gewerkschaften sicherzustellen, löste deshalb die Bindungen des ADGB zur SPD und forderte zur Beteiligung an der nationalsozialistischen Maifeier auf …«

Stimmt das so? Wenn ja, sollte man ihn nicht so ohne Kommentar im Revolutionären Weg zitieren, denn hier wird er als fortschrittlich im Sinne einer Einheitsgewerkschaft dargestellt.

Genossen, mir ist klar, daß Ihr mit dem Revolutionären Weg zum staatsmonopolistischen Kapitalismus viel zu tun habt. Aber es würde mich freuen, wenn Ihr der Zelle gelegentlich eine Antwort zukommen lassen könntet.

Mit solidarischem Gruß Rh.


.

7.7.78

Lieber Genosse Rh.!

Besten Dank für Deinen Brief vom 12. 6. Da ich das Manuskript für den Revolutionären Weg 16 jetzt abgeschlossen habe, will ich Deinen Brief beantworten.

Du erkennst den Unterschied zwischen dem DGB als Dachorganisation (die er ist) oder einem DGB als Einheitsorganisation nicht. Wir haben heute autonome Industriegewerkschaften mit selbständigem Entscheidungsrecht, zum Beispiel bei Tarifabschlüssen in Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden usw. Die einzelnen Industriegewerkschaften stehen nebeneinander, koordinieren nicht einmal ihre gewerkschaftlichen Kämpfe. Darüber steht der DGB als Dachorganisation ohne Weisungsrecht gegenüber einzelnen Gewerkschaften. Die Industriegewerkschaften oder Gewerkschaften haben Einzelmitglieder, der DGB nicht. Mitglied des DGB sind die Gewerkschaften als Organisationen, die einen pauschalen Beitrag an den DGB abführen. Deshalb heißt es auch in der Satzung: »Die IG Metall ist Mitglied des DGB.« Die Vorsitzenden der Gewerkschaften gehören dem Vorstand des DGB an, dazu kommt der geschäftsführende Vorstand.

Wäre der DGB eine Einheitsgewerkschaft, dann wären die einzelnen Industrieverbände oder Gewerkschaften nur Glieder beziehungsweise Abteilungen. Die Mitglieder wären unmittelbar Einzelmitglieder des DGB. Dieser würde die Tarifverhandlungen für den Gesamtbereich aller Wirtschaftszweige führen. Bei gewerkschaftlichen Kämpfen könnten alle Einzelgewerkschaften gleichzeitig in den Kampf einbezogen werden, das heißt, es könnte die Wirtschaft mit einem Schlag lahmgelegt werden. Der Vorteil einer solchen kämpferischen Einheitsgewerkschaft für die Arbeiterklasse liegt auf der Hand. Ein solcher Kampf, der die gesamte Wirtschaft berührt, würde sofort, auch wenn es um rein wirtschaftliche Forderungen geht, politischen Charakter bekommen, weil er gegen die gesamte Kapitalistenklasse gerichtet sein würde. Es ist klar, daß gegen eine solche Einheitsgewerkschaft nicht nur die Militärregierung war, sondern auch die deutschen Kapitalisten und Gewerkschaftsführer, die als Reformisten den Bestand der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bejahen und verteidigen und höchstens bereit sind, beschränkte gewerkschaftliche Kämpfe im Rahmen dieser Ordnung zu führen, und das auch nur notgedrungen. Der Revolutionäre Weg 11, Seite 45/46 schildert die Rolle Tarnows bei der Gründung der Gewerkschaften, er hätte am liebsten die alten Berufsverbände wieder aufgebaut.

Du schreibst in Deinem Brief, wir hätten den damaligen ADGB- Vorsitzenden Leipart einseitig als fortschrittlich wegen seiner Haltung bei Wiederaufbau der Gewerkschaften nach 1945 hingestellt. Das stimmt aber nicht. Der Revolutionäre Weg 11, Seite 91/92 schildert seine negative Rolle nach der Errichtung der faschistischen Herrschaft bis zur Auflösung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933. Hier wird ein Brief Leiparts an Hitler wiedergegeben, der diese negative Rolle unterstreicht. Anscheinend hat Leipart aus den Ereignissen von 1933 und den brutalen faschistischen Methoden der nachfolgenden Zeit gelernt, im Gegensatz zu Tarnow. Wenn Du den Revolutionären Weg 11 gründlich studiert hättest, würdest Du die doppelte Rolle Leiparts erkannt haben. Ich hoffe, hiermit Deine Fragen geklärt zu haben.

Eurer Zelle in der politischen Arbeit viel Erfolg wünschend grüßt mit Rot Front!

Willi

Klassenkampforganisationen oder Kampforganisationen?

26.11.75

Werter Genosse!

Beim Studieren des Revolutionären Wegs 12/73 bin ich meiner Meinung nach auf einen Widerspruch gestoßen.

Seite 12/13 steht folgendes: »Wer die Forderung vertritt:

›Macht die Gewerkschaften wieder zu Klassenkampforganisationen!‹, hat das Wesen der reformistischen Gewerkschaften verkannt. Als reformistische Organisationen könnten die Gewerkschaften nur dann zu Klassenkampforganisationen umgewandelt werden, wenn der Gewerkschaftsapparat erobert werden könnte. Das ist aber unmöglich. Der Gewerkschaftsapparat ist zu mächtig und umfangreich geworden, als daß er hinweggefegt beziehungs- weise abgewählt werden könnte. Die Herrschaft des Gewerkschaftsapparates steht und fällt mit der kapitalistischen Herrschaft.«

Nimmt man an, das ist richtig, so geht es logischerweise Seite 15 Mitte weiter: »Die Gewerkschaften zu erobern heißt nicht, den Apparat zu erobern, sondern die Mitglieder zu gewinnen.«

Dem steht aber gegenüber, was Seite 145 steht: »Es ist Aufgabe der Kommunisten, in Betrieb und Gewerkschaften dahin zu wirken, daß die Gewerkschaften wirkliche Kampforganisationen werden und nicht Scheinkampforganisationen, das heißt, daß sie zur Durchsetzung der gewerkschaftlichen Forderungen, Reformen, Tagesforderungen zur Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen den Kampf vorbereiten und energisch durchführen.« Es wird dann im folgenden der Unterschied gemacht zwischen Kampforganisation und Klassenkampforganisation (Gewerkschaft – Partei). Doch dürfte es nach dem ersten Zitat Seite 12/13 sogar unmöglich sein, die Gewerkschaften überhaupt nur zu Kampforganisationen im reformistischen Rahmen zu machen, da der Apparat zu stark ist und nicht mehr abgewählt werden kann. Vor allem, wenn man annimmt, daß die »Zwingt-die-Bonzen«-Politik zu nichts führt …

Rot Front! Günther


.

27.12.75

Lieber Genosse Günther!

Entschuldige, daß ich Deinen Brief vom 26. 11. erst jetzt beantworten kann. Dir geht es um die Klärung von Kampforganisation und Klassenkampforganisation …

Was die Frage der Kampforganisation anbelangt, wird im Revolutionären Weg 12 ja genau der Unterschied zwischen Kampforganisation und Klassenkampforganisation herausgearbeitet. Wir haben im Revolutionären Weg auch die Bedeutung des Kampfs um Reformen dargelegt. Der Kampf um Reformen ist ein gewerkschaftlicher Kampf und wird im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung geführt. Da die revolutionäre Arbeiterklasse den Kampf um Reformen nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck führt, darf man seine Bedeutung keineswegs herabmindern. Diese Bedeutung liegt in der »Schule des Klassenkampfs«. Das kannst Du im Revolutionären Weg 11 und 12 näher nachlesen. Um diesen Kampf um Reformen führen zu können, müssen die Gewerkschaften zu Kampforganisationen gemacht werden. Denn es geht nicht um die Gewinnung dieser oder jener Reformen an sich, sondern um den Kampf um diese Reformen. Die Gewerkschaftsführung ist aber selbst an diesen Kämpfen nicht interessiert, weil sie nach Möglichkeit die Durchsetzung dieser Reformen ohne Kampf durch Verhandlungen erreichen will. Um den Verhandlungen etwas Nachdruck zu verleihen, droht sie mit Auslösung des Kampfs und läßt zu diesem Zweck sogar eine Urabstimmung vornehmen. Sie muß so vorgehen, weil sie der Stimmung unter den Arbeitern Rechnung tragen muß. Trotzdem versucht sie bis zuletzt, durch Verhandlungen sich mit den Arbeitgeberverbänden zu einigen. Das bedeutet, daß die Gewerkschaftsbürokratie keine echte Kampforganisation wünscht, sondern eine Scheinkampforganisation als Druckmittel bei Verhandlungen.

Der Kampf um Reformen als Schule des Klassenkampfs setzt aber eine Kampforganisation voraus, und darum arbeiten wir in den Gewerkschaften, damit diese zu wirklichen Kampforganisationen gemacht werden.

Um aber den Kampf zum Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung führen zu können, benötigt die Arbeiterklasse jedoch Klassenkampforganisationen. Dazu sind die jetzigen Gewerkschaften unter der reformistischen Führung nicht geeignet.

Sie könnten nur dann zu einer Klassenkampforganisation werden, wenn die reformistische Führung durch eine revolutionäre Führung ersetzt würde. Das ist jedoch nicht durch Abwahl dieser reformistischen Führer möglich. Um den revolutionären Klassenkampf zum Sturz der kapitalistischen Herrschaft zu führen, muß der reformistische Rahmen der Gewerkschaften gesprengt werden, das heißt, die Arbeiter müssen über den Kopf der Gewerkschaftsführer hinweg zu selbständigen Kämpfen übergehen. Diese Kämpfe um ökonomische und politische Forderungen bekommen mehr und mehr revolutionären Inhalt unter Führung der revolutionären Partei. Die revolutionäre Arbeiterpartei ist darum die konzentrierteste Form einer Klassenkampforganisation. Es ist Aufgabe der Kommunisten, in den Gewerkschaften zu arbeiten, um die Mitglieder vom reformistischen Einfluß zu lösen und sie für den revolutionären Klassenkampf zu gewinnen.

Wie Du siehst, ist hier kein Widerspruch zum Revolutionären Weg 11 und 12 oder anderen Nummern des Revolutionären Wegs. Vergleiche bitte diesen Brief mit den entsprechenden Stellen.

Ich wünsche Dir ein erfolgreiches neues Jahr und verbleibe mit revolutionären Grüßen

Willi

Kritik an der Forderung »Für eine gründliche Berufsausbildung  für alle«

10.6.75

Genossen!

Euer Aufruf zur Kritik-Selbstkritik-Bewegung hat mich ermutigt, Euch folgende Kritik zu schreiben.

Vor etwa einem halben Jahr habe ich mich mit der Forderung

»Für eine gründliche Berufsausbildung für alle« beschäftigt, zunächst weil ich nicht wußte, was darunter zu verstehen ist. Nach Briefen an unsere Verbandsleitung und den Rebell erschien eine Stellungnahme in der Roten Fahne 5/75. Diese Antwort auf meine Kritik ist meiner Meinung nach ausweichend, weil sie nicht Stellung dazu nimmt, ob die Forderung Illusionen über die Verbesserung der Berufsausbildung im Kapitalismus durch Reformen weckt und zu dessen Gunsten von der Propagierung des Sozialismus abgelenkt wird. Dies gilt auch für die gerade erschienene Broschüre zu diesem Thema, die eine Darstellung der Berufsausbildung in vielen Bereichen gibt, aber zur eigentlichen Forderung nichts Genaues sagt. Mir geht es jetzt nicht mehr um die Forderung alleine, sondern um mehr, wie es im Revolutionären Weg 12 zu unseren Aufgaben im Tageskampf heißt:

»Dieser Tageskampf muß untergeordnet werden unter die allgemeinen Aufgaben der Arbeiterbewegung, die Beseitigung des kapitalistischen Lohn- und Ausbeutungssystems, die Eroberung der Macht, die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Die Verbindung der Teilkämpfe mit dem Endziel muß ständig propagiert werden. Ökonomische Kämpfe stehen in Wechselbeziehungen mit politischen Kämpfen … sie (die Kampfmethoden) können hier offensiv, dort defensiv sein, aber alle zusammen müssen sie die Bewegung verbreitern und vertiefen. Darin besteht die Aufgabe der Kommunisten. Hier unterscheiden sie sich von den Opportunisten.« (Revolutionärer Weg 12, S. 106/107)

Ich habe die Rebell der letzten Zeit studiert und erneut an die Redaktion geschrieben (siehe Anlage). Die Genossen von der Redaktion schrieben zurück, meine Kritik »erscheint berechtigt«, sie seien dabei, ihre Arbeit zu untersuchen, könnten also noch nicht antworten. Nun bin ich sehr froh, Euch dieses Problem vortragen zu können, und hoffe, daß ich mich verständlich machen kann,

1. Wie wurde die Forderung aufgestellt und in den Verband getragen? Im Programm und den Dokumenten des Verbandsdelegiertentags ist davon nirgends die Rede. Natürlich kämpfen wir um die Verbesserung unserer Lohn- und Arbeitsbedingungen, sagen aber, daß sich durch noch so viele Reformen unsere Lage nicht ändert, sondern betrachten Reformen als Schule des Klassenkampfs (Revolutionärer Weg 12). Die Forderung nach gründlicher Berufsausbildung für alle wurde quasi durch die Hintertür von der Verbandsleitung in den Verband getragen: unauffällig und ohne Begründung. Sie taucht zum erstenmal direkt nach dem 1. Mai 1974 ganz klein in einem Artikel des Rebell auf, steht sogar noch in Anführungszeichen (Rebell 5/75). Man kann dann im Rebell genau verfolgen, wie die Forderung immer mehr an den Anfang rutscht und schließlich zur wichtigsten Forderung des RJVD gemacht wird. Ich finde dieses Vorgehen der Verbandsleitung nicht richtig, es ist subjektivistisch und verstößt gegen den demokratischen Zentralismus. Sicher kann eine gewählte Leitung eine Forderung aufstellen, ohne daß diese monatelang vorher im Verband diskutiert wird, aber nicht auf diese Art, ohne irgendeine politische Begründung dafür zu geben.

Der KABD hat die Forderung, zum Beispiel der 35-Stunden- Woche, nicht nur von Anfang an begründet, ihre Notwendigkeit aufgezeigt, dazu sind ständig Artikel im Zentralorgan und Flugblättern, die Forderung steckt mitten in der ganzen Arbeit der Organisation. Dazu heißt es im Revolutionären Weg 10:

»Die Entfaltung der Demokratie, der aktive ideologische Kampf als Mittel zur ständigen Festigung der Einheit der Partei und zur Verhinderung von Spaltungen erfordert vollständige Publizität in ideologischen und politischen Fragen, das heißt, man muß den Parteimitgliedern die unterschiedlichen Auffassungen offen und vollständig darlegen, damit sie selbst entscheiden können, was richtig und was falsch ist.« (S. 28) »Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit. Deshalb muß der Beschluß den Mitgliedern begründet und erläutert werden, damit sie sein Wesen verstehen und in die Tat umsetzen können.« (S. 33)

2. Warum wurde diese Forderung aufgestellt? Begründet wird die Forderung inzwischen in der Broschüre: »weil alle jungen Menschen dahinterstehen können und so geeint kämpfen, ob sie nun arbeitslos dastehen, als Jungarbeiter beschäftigt sind oder in einem Lehrverhältnis« (»Für eine gründliche Berufsausbildung für alle«, S. 49/50).

Unsere Taktik – und das Aufstellen von Forderungen ist ein Teil der Taktik – richtet sich doch nicht danach, ob sich möglichst alle dahinterstellen können. Unsere Taktik richtet sich doch in erster Linie nach unseren Hauptaufgaben, nach dem Marxismus-Leninismus. Ich möchte dazu Stalin zitieren:

»Die taktische Führung ist ein Teil der strategischen Führung und deren Aufgaben und Forderungen untergeordnet … In den Vordergrund zu stellen sind diejenigen Kampf- und Organisationsfragen, die den Bedingungen der gegebenen Ebbe oder Flut der Bewegung am besten entsprechen und geeignet sind, das Heranführen der Massen an die revolutionären Positionen, das Heranführen der Millionenmassen an die Front der Revolution und ihre Verteilung an der Front der Revolution zu erleichtern und sicherzustellen.« (»Über die Grundfragen des Leninismus«)

3. Welchen Charakter hat die Forderung? Eine gründliche Berufsausbildung kann es im Kapitalismus nicht geben. Unsere Ausbildung ist dem Profitstreben und dem Verwertungsprozeß des Kapitals untergeordnet, was einer gründlichen Ausbildung direkt widerspricht. Dies äußert sich in Stufenplan, Beurteilungsbogen, Nichtübernahme und vielem mehr. Diese Forderung durchzusetzen setzt also die Umwälzung der Machtverhältnisse, die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats voraus. Daher ist eine solche Forderung gewissermaßen eine Übergangsforderung, weil ihre Durchsetzung eine unmittelbare revolutionäre Situation voraussetzt (siehe Revolutionärer Weg 12 zur Mitbestimmung). Was meint die Verbandsleitung zum Charakter der Forderung? Offensichtlich hat die Verbandsleitung keine klare Einschätzung, ob diese Forderung eine des Tageskampfs ist oder mehr beinhaltet. Sie gibt auf der einen Seite mir recht, »daß eine gründliche Berufsausbildung erst im Sozialismus gesichert ist« (Rote Fahne 5/75), doch andererseits gibt es viele Beispiele, wo es scheint, die Forderung sei im Kapitalismus durchzusetzen, auf dem Weg von Reformen also. Beispiele: »Sie (gründliche Berufsausbildung) ist aber natürlich keine Forderung, die sich pauschal durchsetzen läßt, sondern sie muß in den einzelnen Fällen konkretisiert werden.« (Rote Fahne 5/75) »Wie ist der Kampf um eine bessere Berufsausbildung richtig zu führen? ... Unter der Parole ›Gründliche Berufsausbildung für alle‹ lauten unsere Kampfforderungen

a. ›Weg mit dem Stufenplan‹,

b. ›Weg mit Beurteilungsbogen‹,

c. ›Übernahme aller Lehrlinge entsprechend der Ausbildung‹.« (Rote Fahne 2/75)

Noch ein Beispiel aus der Broschüre: »Übernahme aller Lehrlinge in ein der Ausbildung entsprechendes Arbeitsverhältnis! Diese Forderung ist sehr wichtig, damit die Lehrzeit und der Kampf für eine gründliche Berufsausbildung nicht umsonst war.« (S. 53) Hier wird so getan, als ob bei der Durchsetzung aller dieser ökonomischen Forderungen unsere Lage sich grundsätzlich verbessern, der Kampf um die gründliche Berufsausbildung also erfolgreich wäre. Hier wird das getan, wovor der Jugendbeauftragte des KABD auf dem l. Verbandsdelegiertentag des RJVD gewarnt hat:

»Jugendgemäße Formen und größte Flexibilität zur Erreichung der Arbeiterjugend sind die eine Seite einer Jugendmassenorganisation, die andere ist, daß sie dabei niemals ihren Charakter als politische, als kommunistische Organisation verlieren darf.« (Dokumente des l. Verbandsdelegiertentags, S. 21)

4. Die Durchsetzung der Forderung ist erst im Sozialismus zu verwirklichen. Heute leben wir in einer Etappe ohne akut revolutionäre Situation. »Wenn kein revolutionärer Aufschwung vorhanden ist, müssen die kommunistischen Parteien, ausgehend von den Tagesnöten der Werktätigen, Teillosungen und Teilforderungen aufstellen und sie mit den Hauptzielen der Kommunistischen Internationalen (z. B. Aufbau der Partei, Durchführen der Revolution, Errichtung der Diktatur des Proletariats) verknüpfen. Hierbei dürfen aber die Parteien nicht solche Übergangslosungen aufstellen, die das Vorhandensein einer revolutionären Situation zur Voraussetzung haben und in einer anderen Situation zur Losung des Verwachsens mit dem System kapitalistischer Organisationen werden (z. B. die Losung der Produktionskontrolle und ähnliche). Teilforderungen und Teillosungen sind absolute Bedingung einer richtigen Taktik, während eine Reihe von Übergangslosungen untrennbar an das Vorhandensein einer revolutionären Situation gebunden sind.« (Programm der Kommunistischen Internationale, in: »Protokolle des VI. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale«, S. 97)

Ich meine, wenn die Forderung nach der gründlichen Berufsausbildung heute propagiert wird, eine Forderung, die erst im Sozialismus zu verwirklichen ist, und dann eine Reihe von Tagesfragen aufgezeigt wird, die es nur zu lösen gilt (Stufenplan usw.), muß das zum Opportunismus führen. So wichtig es ist, daß wir als junge Kommunisten uns an die Spitze jedes Kampfs um die Verbesserung unserer Ausbildung setzen, so wichtig ist es, daß wir dem Kampf Weg und Ziel geben. Dies müssen wir offen und klar zum Ausdruck bringen, sagen, daß wir nur durch die Revolution und die Diktatur des Proletariats eine gesicherte Zukunft gewinnen. »Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Ziele nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung«, sagt Karl Marx im »Kommunistischen Manifest«.

5. Der Kern meiner Kritik ist, daß die Verbandsleitung meint, sie könnte mit der Forderung nach gründlicher Berufsausbildung beides, Tageskampf und Alternative, gleichermaßen verbinden. Das muß zu Unklarheit führen, das Ziel unseres Kampfs geht verloren. Ich möchte dazu aus unserer Organisation (Frankfurt) berichten.

Vor kurzer Zeit haben wir auf einer Zellenleitersitzung fest- gestellt, daß unsere gesamte Arbeit durch Ökonomismus gekennzeichnet ist. Dies zeigt sich zum Beispiel deutlich in den Betriebszeitungen. In den letzten Monaten findet man keine Betriebszeitung mit einem Artikel zur Propaganda des Sozialismus, über das Ziel, das wir uns doch im RJVD gesteckt haben

– Was will der RJVD? Was ist der KABD? – ist nichts zu finden. In der Betriebszeitung meiner Zelle, dem »Roten Widerstand« waren vor mehr als einem Jahr noch oft Artikel zum Internationalismus zu finden. Doch auch das ist gänzlich verschwunden. Beschränkung auf kleine Tagesfragen ist alles der letzten Nummern. Diese Kritik trifft mich und jeden von uns. Doch dieser Ökonomismus, Beschränkung auf den Tageskampf, Vernachlässigung der Schulung, ist gleichzeitig Ausdruck der falschen Linie im Verband.Genossen, ich halte aus diesen Gründen die Forderung für schädlich für unsere Entwicklung und bitte Euch, zu untersuchen, ob die Forderung nicht zurückgezogen werden muß, damit gewährleistet wird, daß wir konkrete Teilforderungen zum Kampf der Arbeiterjugend gegen Ausbeutung und Unterdrückung stellen und strategisch die Kämpfe mit klaren Parolen für die Errichtung der Macht der Arbeiterklasse, den Sozialismus, verbinden.

»In den Ländern, wo der Kapitalismus vorübergehend stabilisiert ist, ist die größte Gefahr, die revolutionären Perspektiven im Kampf für die Teilforderungen hintenanzusetzen und darauf zu verzichten, den Massen die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des vollen Endsieges der Revolution klarzumachen. Der Kampf für Teilforderungen muß immer und überall mit den allgemeinen Aufgaben der Revolution verknüpft sein. Besonders notwendig ist es, den Massen klarzumachen, daß ohne den Endsieg der Arbeiterklasse keine ernstliche Verbesserung ihrer Lage errichtet werden kann.« (»Zur Bolschewisierung der kommunistischen Jugendverbände«, Thesen der Kommunistischen Jugendinternationale 1925)

6. Die Forderung war der Anlaß meiner Kritik, diese Forderung ist die Auswirkung einer falschen Linie der Verbandsleitung. Nach meiner Ansicht ist diese Linie durch konsequentesten Ökonomismus gekennzeichnet, die Hauptaufgabe der Erziehung zum Kommunismus ist zur Nebensache geworden. Was uns vor allen Ökonomisten und Opportunisten auszeichnet, die auch für eine bessere Berufsausbildung eintreten, was uns als Verband zusammenhalten kann und muß, wird vernachlässigt und verwaschen: das Bekenntnis zum und der Kampf um den Sozialismus-Kommunismus, die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats. Die Ausrichtung am KABD und Eure Unterstützung läßt uns mit Sicherheit zu den Aufgaben eines kommunistischen Jugendverbands zurückkehren!

Ergänzung:

Der RJVD als Jugendverband umfaßt nicht nur Lehrlinge, sondern die gesamte arbeitende Jugend, also auch Hilfsarbeiter und Jungarbeiter. Die Forderung nach gründlicher Berufsausbildung trifft für diesen Teil der Arbeiterjugend überhaupt nicht zu, sondern es erfolgt eine Beschränkung auf die Arbeiterjugend, die eine Ausbildung bekommt. Durch die Forderung wird also neben der Beschränkung auf Ökonomismus (nämlich nur Verbesserung der Ausbildung, keine politische Stoßrichtung) sogar ein Teil der Arbeiterjugend »vergessen«, Jungarbeiter werden abqualifiziert als nicht so wichtig für den RJVD.

R.


.

2.9.75

Lieber Genosse R.!

Dein Brief vom 10. 6. »Kritik an der ideologisch-politischen Linie der Verbandsleitung des RJVD« enthält Richtiges und Falsches. Wir müssen das Falsche kritisieren und das Richtige herausstellen, das bedeutet, daß wir den Gegenstand unserer Kritik untersuchen, analysieren und überdenken, was richtig und falsch ist. Genauso muß man auch an die Kritik herangehen, wir müssen weder Kritik in Bausch und Bogen ablehnen noch zustimmen, sondem überprüfen, was daran richtig oder falsch ist. Ich will im folgenden versuchen, sowohl Deine Kritik wie auch den Gegenstand Deiner Kritik zu analysieren.


Fangen wir mit den ersten zwei Seiten Deiner Kritik an. Es gibt keine ideologisch-politische Linie der Verbandsleitung des RJVD, sondern nur eine ideologisch-politische Linie des KABD, die auf dem Zentralen Delegiertentag beschlossen und zwischen zwei Zentralen Delegiertentagen von der Zentralen Leitung des KABD weiterentwickelt und eventuell korrigiert wird, wenn sich Fehler herausstellen sollten. So kann die Zentrale Leitung des KABD zwischen dem 1. und 2. Verbandsdelegiertentag des RJVD bestimmte Losungen und Forderungen für den Kampf der Arbeiterjugend aufstellen und durch den Jugendverband in die Arbeiterjugend hineintragen lassen. Für die Umsetzung der Linie ist die Verbandsleitung verantwortlich, aber nicht für die Linie selbst.

Deine Kritik ist insofern nicht berechtigt:

1. weil Du die Zuständigkeit für die Erstellung der ideologisch- politischen Linie verwechselst. Ist Dir der Rundbrief der Zentralen Kontrollkommission vom 25. 1. 75 nicht bekannt, der in allen Ortsgruppen und Zellen vorgelesen und diskutiert werden sollte? Hier heißt es unter anderem:

»Beide Jugendorganisationen haben die organisatorische Selbständigkeit auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus, aber nicht die ideologisch-politische Selbständigkeit. Die ideologisch-politische Linie wird vom KABD bestimmt und ist für alle drei Organisationen bindend … Über diese ideologisch-politische Linie und ihre taktische Anwendung entscheidet der Zentrale Delegiertentag und in der Zwischenzeit die Zentrale Leitung des KABD. Sie ist auch die Grundlage der politischen Tätigkeit des RJVD und der KSG, deren Leitungen für die Durchführung verantwortlich sind.«

2. Dafür, daß die Zentrale Leitung des KABD eine Forderung, die bisher nicht aufgestellt war, propagierte, kann man die Verbandsleitung nicht verantwortlich machen.

Deine Kritik ist berechtigt in dem Punkt, wie die Forderung in den Jugendverband hineingetragen wurde, denn es handelte sich ja um eine neue Forderung, um eine Konkretisierung der ideologisch-politischen Linie. Ich zitiere einen wichtigen Absatz des Rundbriefes der Zentralen Kontrollkommission:

»Wenn auch die Mitglieder des RJVD und der KSG nicht über die ideologisch-politische Linie entscheiden können, so heißt das nicht, daß sie nicht daran mitwirken dürfen. Jedes Mitglied hat die Möglichkeit, Vorschläge einzureichen und auf Fehler aufmerksam zu machen. Der KABD wird es begrüßen, wenn die Eigeninitiative sich in allen drei Organisationen entwickelt, aber sie muß immer das Gesamtinteresse unserer Organisationen und vor allem die Einheit wahren. Dabei soll man sich vor Subjektivismus und Schematismus hüten.«

Warum hat die Zentrale Leitung des KABD den Mitgliedern des RJVD nicht den Text der Broschüre vorher zur Mitarbeit vorgelegt und Vorschläge entgegengenommen? Ich bin sicher, dann wären einige Fehler vermieden worden. Man hätte sich die Erfahrungen der RJVD-Mitglieder zunutze machen müssen. Das ist leider nicht geschehen.

Nun zur Forderung selbst: »Für eine gründliche Berufsausbildung für alle!« Sie ist teils richtig, teils falsch. »Für eine gründliche Berufsausbildung« ist richtig, »für alle« ist falsch; denn es ist keineswegs »für alle Lehrlinge«, sondern allgemein die Jugend gemeint. Von der einfachsten Handarbeit bis zur Bedienung und Wartung automatischer Anlagen liegt ein bunter Fächer von Arbeiten, die verschiedene Fähigkeiten bei der Durchführung verlangen. Die Fähigkeiten und Neigungen der Menschen sind unterschiedlich, zum Beispiel haben nicht alle die Neigung und Fähigkeit, Ingenieur zu werden.

In jeder Produktion gibt es einfache und komplizierte Arbeiten, es ist nur eine Verschiebung des Umfanges der einen oder anderen Arbeit eingetreten. Vor der kapitalistischen Epoche gab es in der Produktion fast ausschließlich Handarbeit, aber auch schon differenziert; zum Beispiel zwischen Hufschmied und Goldschmied besteht ein gewaltiger Unterschied. Der Kapitalismus verwandelte immer mehr Handarbeit in Maschinenarbeit und als Folge im zunehmenden Maße umfassende Arbeit in Teilung und Spezialisierung der Arbeit. Das war ein gewaltiger Fortschritt in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.

Inzwischen hat die Arbeitsteilung und Spezialisierung Formen angenommen, die mit den Produktionsverhältnissen nicht mehr im Einklang stehen: in den zwanziger Jahren die Mechanisierung mit dem Fließband als Höhepunkt und in den fünfziger Jahren die Hochmechanisierung und Automation mit der vollautomatischen Fabrik als Höhepunkt. Aber nach wie vor gibt es neben hochqualifizierter Spezialarbeit auch einfache Arbeit. Es kann auch nicht jedes Produkt mittels Automation hergestellt werden.

Eine Berufsausbildung für alle kann es nicht nur im Kapitalismus, sondern auch im Sozialismus nicht geben. Auch hier gibt es neben komplizierter Arbeit auch einfache Arbeit, die keinerlei Berufsausbildung erfordert. Da die Fähigkeiten der Menschen verschieden sind, richtet sich auch im Sozialismus die Verteilung der einfachen und komplizierten Arbeiten nach den Fähigkeiten der einzelnen Menschen.

Im Sozialismus, der ersten Phase des Kommunismus, gilt das Leistungsprinzip: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung!« Die Ausübung der verschiedensten Arbeiten, von einfachen bis zu komplizierten, richtet sich nach den Fähigkeiten und die Verteilung der Arbeitsergebnisse nach der Leistung, wobei einfache und komplizierte Arbeit und die Menge der geleisteten Arbeit stufenweise gewertet werden. Die Berufsausbildung geschieht entsprechend den Fähigkeiten des einzelnen, wobei seine Neigungen voll berücksichtigt werden können.

Das ist im Kapitalismus nicht möglich. Wie viele Talente schlummern in den werktätigen Massen, die ungenutzt verkümmern! Die Berufsausbildung erfolgt meistens nicht nach Neigung und Fähigkeiten, das heißt nicht durch freie Berufswahl, sondern richtet sich nach den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktion. Das wird in der Broschüre richtig dargestellt.

Die freie Berufswahl, entsprechend Neigung und Fähigkeit, ist nur im Sozialismus/Kommunismus möglich. Das sozialistische Leistungsprinzip »Jedem nach seiner Leistung« ist solange notwendig, bis das sozialistische Bewußtsein der Massen ausgereift ist, das heißt eine bewußt sozialistische Einstellung zur Arbeit besteht. Im Revolutionären Weg 7, Seite 72/73 heißt es: »Die geistige Veränderung der Menschen in der sozialistischen Gesellschaft geht Hand in Hand mit der Veränderung der ökonomischen Basis durch allseitige Mechanisierung und bessere Organisation der Arbeit und der Automatisierung der Produktion. Das ist die materielle Voraussetzung beim Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus … Sind die geistigen und materiellen Voraussetzungen des Übergangs zur kommunistischen Phase ausgereift, dann geht die Gesellschaft zum kommunistischen Verteilungsprinzip über: ›Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!‹«

Also auch in der kommunistischen Phase richtet sich die Berufsausbildung und -ausübung nach den Fähigkeiten des einzelnen. Die Fähigkeiten und Neigungen der Menschen sind eben nicht gleich und darum auch nicht die Berufsausbildung für alle. Es ist darum nicht richtig, wenn Du schreibst: »Die Durchsetzung der Forderung (gründliche Berufsausbildung für alle) ist erst im Sozialismus zu verwirklichen«, soweit es sich dabei auf das »für alle« bezieht. Das ist auch nicht die entscheidende Seite. Ausschlaggebend ist im Sozialismus/Kommunismus die gesellschaftliche Gleichstellung aller Werktätigen, ob sie nun einfache oder komplizierte, körperliche oder geistige Arbeit ausüben.

In der ersten Phase, im Sozialismus, ist der Unterschied noch vorhanden, darum »Jedem nach seiner Leistung«. In der zweiten Phase ist dagegen der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden; die Arbeit ist nicht mehr nur Mittel zum Leben, sondern zum höchsten Lebensbedürfnis geworden.

Kann man daraus schließen, wie Du in Deiner kritischen Stellungnahme darlegst: »Eine gründliche Berufsausbildung kann es im Kapitalismus nicht geben«? Wie kannst Du nur annehmen, die Kapitalisten wären nicht an guten Facharbeitern interessiert? Ich bin selbst Facharbeiter gewesen und kann aus meiner 50jährigen Arbeit aus eigener Erfahrung sagen, daß die Kapitalisten gute Facharbeiter als Ausbeutungsobjekte schätzen. Mancher Betrieb steht und fällt mit seinen Facharbeitern, die oft eine entscheidende Schlüsselstellung im Betrieb innehaben. Legen sie die Arbeit nieder, steht oft der gesamte Betrieb. Die Lehrlingsausbildung in den Betrieben ist aber verschieden. Nicht wenige Unternehmer sehen im Lehrling ein unmittelbares Ausbeutungsobjekt, indem sie ihn mit ausbildungsfremden Arbeiten beschäftigen. Dagegen müssen sich die Lehrlinge zur Wehr setzen und eine gründliche Berufsausbildung verlangen. Ein guter Facharbeiter kann nicht nur höheren Lohn beanspruchen, er kann auch viel für die Kollegen tun, die in der Produktion auf die qualifizierte Vorbereitungsarbeit der Facharbeiter angewiesen sind (zum Beispiel Werkzeug- und Vorrichtungsbau). Darum schätzen auch die Produktionsarbeiter den guten Facharbeiter. Ein guter Facharbeiter kann dem Unternehmer und seinen Lakaien gegenüber selbstbewußter auftreten. Wenn er ein klassenbewußter Arbeiter ist, hat er größere Möglichkeiten, auf seine Kollegen im Betrieb politisch einzuwirken, weil er mehr Bewegungsfreiheit hat. Es ist doch kein Zufall, daß die meisten Funktionäre der früheren KPD Facharbeiter waren. Auch von diesen Gesichtspunkten aus ist eine gründliche Berufsausbildung wichtig und kann auch durchgeführt werden.

Auch die Monopolkapitalisten, die für die Bedienung und Wartung der komplizierten automatischen Anlagen Spezialfacharbeiter benötigen, können doch kein Interesse daran haben, diese Millionenobjekte Pfuschern anzuvertrauen. Sie sind für eine gründliche Ausbildung dieser Spezialfacharbeiter, und darum übernehmen die Konzernbetriebe die Ausbildung auch selbst.

Diese Ausbildung ist gründlich, aber nicht umfassend, sondern einseitig und auf Spezialwissen beschränkt. Darin liegt der Nachteil für die Kollegen, weil sie dieses Spezialwissen in Großbetrieben anderer Produktionsbranchen oder in Klein- und Mittelbetrieben nicht verwenden können. Anderseits haben diese Spezialfacharbeiter eine gewisse Schlüsselstellung im Betrieb, die bei Streiks eine große Bedeutung haben kann. Darum sind die Monopolkapitalisten bestrebt, sie von der Masse der Kollegen zu isolieren und durch bessere Bezahlung zu korrumpieren (siehe Revolutionärer Weg 12, S. 79/80).

Diesen Bestrebungen der Monopolkapitalisten müssen wir dadurch begegnen, daß wir diese Spezialfacharbeiter für den Klassenkampf gewinnen. Kann man das aber dadurch, daß sie als »Fachidioten« beschimpft werden, wie es in der Broschüre Seite 50 geschieht? Der Ausdruck »Fachidiot« stammt von der Universität und wird auf solche Professoren bezogen, die sich auf ein bestimmtes Fachwissen spezialisiert haben und, wie mit Scheuklappen versehen, nichts anderes gelten lassen und darum vielfach als die zuverlässigsten bürgerlichen Ideologen gelten. Kann das auf einen Facharbeiter übertragen werden? Das wäre doch der reinste Hohn.

Die Entwicklung der Facharbeiter mit vielseitigen Kenntnissen zu Facharbeitern mit spezialisierten Kenntnissen ist doch durch die Entwicklung der Produktionstechnik bestimmt. Können wir das Rad der Geschichte der industriellen Produktion zurückschrauben, die doch die Geschichte der Teilung und Spezialisierung der Arbeit ist? Die Maschinenarbeit teilte die Handarbeit in viele Arbeitsgänge auf, die Maschinenstürmer konnten das nicht verhindern, weil die Zerstörung der Maschinen gegen den Fortschritt war. Das Fließband verbreitete die Arbeitsteilung noch mehr. Es ist unsinnig, gegen das Fließband als solches anzukämpfen, sondern gegen die Arbeitsbedingungen am Fließband, die immer unerträglicher wurden (Bandbeschleunigung, Fortfall von Springern, Verringerung der Bandbesetzung und anderes), müssen wir den Kampf führen. Programmgesteuerte Maschinen ersetzten manuelle Arbeit, und Automation schaltete Produktionsarbeiter aus. Die Spezialisierung der Technik geht unaufhaltsam weiter und damit auch die Spezialausbildung, nicht nur im Kapitalismus, sondern auch im Sozialismus.

Teilforderungen wie »für eine gründliche Berufsausbildung« und weitere, wie sie in der Broschüre auf Seite 53/54 aufgestellt sind, können natürlich nur Forderungen für den Tageskampf sein ebenso wie Lohnforderungen, Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung, Verbesserung der Arbeitsbedingungen usw. Das ist ein Kampf um Reformen, der allerdings nicht als Selbstzweck geführt werden darf, denn das wäre reformistisch, sondern als Mittel, den Kampf zur Beseitigung des kapitalistischen Systems vorzubereiten, als Schule des Klassenkampfs.

Du hast recht, das ist nicht klar genug zum Ausdruck gekommen, dazu genügt der vorletzte Absatz auf der letzten Seite der Broschüre nicht. Es müßte bereits im Text unbedingt näher auf den Unterschied der Berufsausbildung im Kapitalismus und Sozialismus eingegangen werden, um aufzuzeigen, daß der gegenwärtige Kampf für eine gründliche Berufsausbildung, ebenso wie auch für andere Teilforderungen, keine grundsätzliche Lösung bringen kann, sondern nur in Verbindung mit dem revolutionären Klassenkampf.

Zum Schluß sprichst Du wieder von einer »falschen Linie der Verbandsleitung«. Wie ich eingangs erklärt habe, wird die ideologisch-politische Linie des RJVD, einschließlich der Verbandsleitung, vom KABD bestimmt. Kann man sagen, die ideologisch-politische Linie des KABD ist ökonomistisch? Ist die Grundsatzerklärung, das Arbeiterkampfprogramm, die Behandlung der theoretischen Probleme im Revolutionären Weg ökonomistisch beziehungsweise revisionistisch? Das behaupten nicht einmal unsere Gegner. Richtig ist, und das müssen wir beachten, kritisieren und bekämpfen:

Bei der Umsetzung der ideologisch-politischen Linie des KABD in die Praxis tauchen ökonomistische und opportunistische Tendenzen auf, nicht nur im RJVD, sondern auch im KABD! Du erwähnst die ökonomistischen Tendenzen in den Betriebszeitungen: das habe auch ich vor einiger Zeit auf einer Konferenz in Nordrhein-Westfalen kritisiert. Natürlich soll man die Propagierung des Kampfs für den Sozialismus nicht abstrakt durchführen. So hätte man zum Beispiel diese Propaganda geschickt v

›Weg mit dem Stufenplan‹,

›Weg mit Beurteilungsbogen‹,

›Übernahme aller Lehrlinge entsprechend der Ausbildung‹.« (Rote Fahne 2/75)

verbinden können mit der Forderung »Für eine gründliche Berufsausbildung«. Daß es nicht geschah, ist ein Fehler, und das muß man kritisieren. Ich halte es aber für falsch und gefährlich, wenn wie eine schleichende Krankheit im RJVD verbreitet wird, die ideologisch-politische Linie des RJVD und damit des KABD sei ökonomistisch, statt zu untersuchen, wo und in welcher Weise Ökonomismus bei der Umsetzung der Linie aufgetreten ist beziehungsweise auftritt.

Man soll in der Organisation auch untersuchen, inwieweit von organisationsfeindlichen Elementen bewußt zersetzende Argumente hineingetragen werden. Die Kritik-Selbstkritik-Bewegung steht unter dem Schutz der Zentralen Kontrollkommission, aber nicht für Parteifeinde. Wer in feindlicher Absicht diese großzügig gehandhabte innerorganisatorische Demokratie zum Schaden unserer Organisationen ausnutzt, muß bekämpft und aus der Organisation entfernt werden.

Die Kritik-Selbstkritik-Kampagne hat den Zweck, alles offen auf den Tisch zu legen, was unserer ideologischen, politischen und organisatorischen Arbeit bisher geschadet hat. Sie soll alle Fehler und Mängel unserer bisherigen Arbeit aufdecken, um sie zu beseitigen. Sie soll die Organisation stärken und nicht schwächen. Dabei müssen wir auch unser kritisches Herangehen untersuchen, das heißt prüfen, ob die Kritik positiv oder negativ ist, ob sie immer von der Einheit der Organisation ausgeht, ob sie nicht in dem Sinne geführt wird, von den eigenen Fehlern und Schwächen abzulenken. Die Kampagne besteht aus zwei Teilen: Kritik und Selbstkritik. Beides richtig angewandt, stärkt und festigt den RJVD.

Rot Front! Willi

Kritik am Revolutionären Weg 12

Kritik am Revolutionären Weg 12

An die Redaktion Revolutionärer Weg

Dezember 1973

Ich halte die im Revolutionären Weg 12 auf Seite 45 unter dem Thema »Mitbestimmung als Realität und Illusion« unter Punkt 3 geschriebene Äußerung »Mitbestimmung als Übergangslosung« nicht für richtig.

  1. Es hätte richtiger heißen müssen: »Mitbestimmung als Realität in der Doppelherrschaft und Arbeiterkontrolle als Übergangslosung«. Das wäre auch dem nachfolgenden Artikel eher gerecht geworden, weil dort, was richtig ist, vor allem das Problem der Arbeiterkontrolle behandelt wird.
  2. Meiner Meinung nach ist es nicht richtig, wenn Mitbestimmung als Übergangslosung bezeichnet wird. So heißt es oben auf Seite 65 im Revolutionären Weg 12: »Dabei können Mitbestimmung und Arbeiterkontrolle als Übergangslosungen in einer revolutionären Situation eine bedeutende Rolle spielen.«

Im nächsten Absatz wird im Zusammenhang mit der Doppelherrschaft die Notwendigkeit von Übergangslosungen herausgestellt. In einer Doppelherrschaft kann die Bourgeoisie nicht mehr allein regieren. Es ist also eine reale Mitbestimmung vorhanden. Man braucht sie nicht mehr als Übergangslosung aufzustellen.

Oder soll in einer revolutionären Situation zur Erreichung der Doppelherrschaft die Forderung nach Mitbestimmung, die sich natürlich auf die bewaffnete Arbeiterklasse stützt, als Übergangslosung aufgestellt werden? Diese Losung ist meines Erachtens jedoch noch nirgends aufgetaucht, sie ist meiner Meinung nach auch nicht richtig.

Auch die selbständigen Streiks waren bisher gewerkschaftliche Streiks, Kämpfe um Reformen, Lohnerhöhungen und haben den reformistischen Rahmen also auch nicht durchbrochen, auch wenn der von der Gewerkschaftsführung gesteckte Rahmen durchbrochen wurde.

Daß die Gewerkschaften nicht zu Klassenkampforganisationen mit dem Ziel des Sozialismus werden können, liegt nicht nur an den rechten Führern, sondern auch an der breiten Form der Massenorganisation …

Werner

.

25.1.74

Lieber Werner!

Ich habe Deine Kritik am Revolutionären Weg 12 erst jetzt erhalten. Du hättest sie einfacher an mich direkt schicken können. So sehr ich jede Kritik begrüße, muß ich Dir doch sagen, daß Du die Probleme nicht genügend durchdacht hast; trotzdem ist gut, daß Du die Fragen angeschnitten hast.

  1. In einer revolutionären Situation müssen stets Übergangslosungen beziehungsweise Übergangsforderungen aufgestellt werden, unabhängig davon, ob es für eine Zeitlang zu einer Doppelherrschaft kommt oder nicht. Es wird noch mehr Übergangslosungen als Mitbestimmung und Arbeiterkontrolle geben, sie werden aus der revolutionären Situation erstehen. In Rußland 1917 entstand die Doppelherrschaft aus dem Übergang von der bürgerlich-demokratischen Revolution zur proletarischen Revolution. Bei uns gibt es keine bürgerlich-demokratische Revolution mehr, sondern als direktes Ziel die proletarische Revolution. Das besagt aber nicht, daß es hier keine Doppelherrschaft geben kann, aber sie braucht nicht unbedingt notwendig zu sein, denn die Kämpfe könnten sich im Laufe einer akut revolutionären Situation so schnell entwickeln, daß die revolutionären Massen die Alleinherrschaft der Bourgeoisie durch ein Übergewicht zu stürzen vermögen. Es kann aber auch sein, daß sich eine Zeitlang die Kräfte die Waage halten, dann ist der Zustand der Doppelherrschaft gegeben, das Mitbestimmen und Mitregieren wird real verwirklicht. Alles hängt also von der Entwicklung der Klassenkräfte und des revolutionären Klassenkampfs ab. In jedem Fall müssen Übergangslosungen beziehungsweise Übergangsforderungen aufgestellt und muß für ihre Durchführung gekämpft werden.
  2. Müssen die Gewerkschaften Kampforganisationen sein? Die Gewerkschaften als Massenorganisationen der Arbeiterklasse müssen die Interessen der Arbeiter und Angestellten im Kampfdurchsetzen. Die Gewerkschaftsbürokratie ist bestrebt, aufgrund ihrer Politik der Klassenversöhnung und Klassenharmonie, Verbesserung durch Verhandlungen zu erreichen und weicht darum, soweit es geht, dem Kampf aus. Sie wollen nur mit dem Einsatz der gewerkschaftlichen Macht drohen. Das gelingt ihr nicht immer, vor allem dann nicht, wenn der Kampfwille der Arbeiter so stark ist, daß die Gefahr besteht, sie könnten sich über den Kopf der Gewerkschaftsführung hinwegsetzen und den Kampf selbständig führen. Die Gewerkschaftsführung kann sich nicht immer gegen die Durchsetzung von Forderungen der Arbeiter wenden, aber sie möchte möglichst ohne Kampf auskommen, anderseits muß sie dem Kampfwillen der Massen Rechnung tragen und selbst den Kampf auslösen. Da Reformen an sich keine Schule des Klassenkampfs bedeuten, sondern nur der Kampf für die Durchsetzung, ist es notwendig, die Gewerkschaften zu wirklichen Kampforganisationen zu machen, die stark genug sind, die Reformen im Kampf durchzusetzen. Da sie jedoch nur Kampforganisationen zur Durchsetzung gewerkschaftlicher (ökonomischer) Forderungen im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind, können sie keine Klassenkampforganisationen sein, weil solche Organisationen das Ziel verfolgen, den Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu sprengen und den Sturz der kapitalistischen Herrschaft herbeizuführen.
  3. Es ist klar, daß die gewerkschaftliche Organisation die Millionen Mitglieder ausmachen, daß aber die Politik der Gewerkschaften von der Gewerkschaftsführung bestimmt wird. Diese Politik kann von den Mitgliedern nur dann beeinflußt werden, wenn sie begreifen, daß ihre Organisation zu einer wirklichen Kampforganisation werden muß, in der der Kampfwille der Mitglieder bestimmt. Das liegt natürlich nicht im Interesse der Bürokratie, deshalb müssen wir Kommunisten dahin wirken, daß die Gewerkschaften erstarken und kämpferisch werden, das heißt, zu wirklichen Kampforganisationen werden. Ein unerschütterlicher Kampfwille erleichtert auch den Übergang von gewerkschaftlichen Kämpfen zu selbständigen Kämpfen, die bei richtiger Verbindung von ökonomischen und politischen Kämpfen Klassenkampfcharakter bekommen. Diese Wechselwirkung ist ein dialektischer Prozeß im Klassenkampf.

Es ist falsch, wenn Du schreibst: »Auch die selbständigen Streiks waren bisher gewerkschaftliche Streiks …« Gewerkschaftliche Streiks müssen von der Gewerkschaftsführung bestätigt werden, sie unterstehen ihrer Kontrolle und werden von der zentral geführten Kasse finanziert. Selbständige Streiks brechen entweder spontan aus oder werden in der Weiterentwicklung organisiert, ohne von den Gewerkschaften anerkannt, finanziert und von der Gewerkschaftsführung kontrolliert zu werden. Daß sie um ökonomische Forderungen geführt werden, kennzeichnet sie noch keineswegs als gewerkschaftliche Streiks. Selbständige Streiks haben vielseitigen Charakter. In der gegenwärtigen Metalltarifrunde stellen wir uns die Aufgabe, Warnstreiks zu organisieren, um den gewerkschaftlichen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Auch das sind selbständige Streiks, die den Gewerkschaftsführern im Augenblick nicht genehm sind. Im vergangenen Jahr wurden selbständige Streiks zur Durchsetzung eigener Forderungen geführt. Bei beiden Arten selbständiger Streiks geht es um ökonomische Forderungen. Als selbständige Streiks sprengen sie wohl den gewerkschaftlichen Organisationsrahmen, aber noch nicht den reformistischen Rahmen. Trotzdem unterscheiden sie sich von gewerkschaftlichen Streiks innerhalb des reformistischen Rahmens, weil die selbständigen ökonomischen Streiks dadurch politischen Charakter haben, daß sie gegen die staatlich-juristische Ordnung verstoßen und für sie das den Gewerkschaften zugesicherte stillschweigende Streikrecht nicht gültig ist, sie deshalb »wilde« Streiks sind. Sie sind eben keine gewerkschaftlichen Streiks. Sie durchbrechen den reformistischen Rahmen in dem Augenblick, wo sie neben ökonomischen Forderungen auch politische Forderungen durchsetzen wollen. Das setzt aber ein hohes Klassenbewußtsein – über das gewerkschaftliche Bewußtsein hinaus – voraus, was nicht von heute auf morgen erreicht werden kann. Die Entwicklung der selbständigen Kämpfe zu Klassenkämpfen (obwohl sie in ihrer Gesamtheit schon Klassenkampf bedeuten), kann nur stufenweise erfolgen: ökonomische Streiks, ökonomisch-politische Streiks, politische Massenstreiks, verbunden mit Massendemonstrationen und Kundgebungen.

Wenn Du schreibst, daß »die Gewerkschaften nicht zu Klassenkampforganisationen werden können, liegt nicht nur an den Gewerkschaftsführern, sondern auch an der breiten Form als Massenorganisation«, ist das nicht richtig. Nicht die Form, sondern der politische Inhalt ist allein entscheidend, zum Beispiel waren die russischen Gewerkschaften nicht reformistisch, sondern revolutionär und damit Klassenkampforganisationen, die einen hervorragenden Beitrag in der Oktoberrevolution leisteten. Das war nur durch die enge Bindung mit der revolutionären Partei möglich. Das hättest Du aus dem geschichtlichen Teil (Revolutionärer Weg 11) ersehen können. Ich bitte Dich und die anderen Genossen, bei der jetzt kommenden Schulung über Revolutionärer Weg 11 und 12 die Probleme gründlich zu studieren und durchzudenken.

Wenn auch manche Fragen hätten ausführlicher behandelt werden können, so wollen wir doch den Rahmen des theoretischen Organs nicht überschreiten, noch dazu, weil alle Nummern des Revolutionären Wegs ein zusammenhängendes System beinhalten und gleiche Probleme in anderem Zusammenhang wiederkehren und dort ebenfalls behandelt werden müssen, zum Beispiel Etappen des Klassenkampfs in Revolutionärer Weg 6, Revolutionärer Weg 12 und Wirtschaftsbroschüre und später noch in »Strategie und Taktik des Klassenkampfs«. Ich hoffe, Deine Fragen ausreichend beantwortet zu haben und

grüße Dich und die anderen Genossen mit Rot Front!

Willi

Die Theorie des Sozialfaschismus und die Folgen

16.10.73

Liebe Genossen,

ich möchte einen Absatz aus dem Revolutionären Weg 11 kritisieren. Das Heft ist lehrreich und sehr wichtig; aber gerade weil Euch die Darstellung so gut gelungen ist, sollten auch einzelne Fehler berichtigt werden.

Auf Seite 94/95 schreibt Ihr, daß weder Genosse Dimitroff auf dem VII. Weltkongreß noch Genosse Pieck auf der Brüsseler Parteikonferenz das Wort »Sozialfaschisten« für die Sozialdemokraten gebraucht haben, und begründet das so:

»Vielleicht waren zu viele führende Genossen der Komintern für diese schädliche Theorie verantwortlich gewesen, um sie öffentlich zu verurteilen.«

Der Nebensatz am Schluß kann meinen, daß die Genossen der Komintern selbst darauf verzichtet haben, die Sozialfaschismustheorie zu verurteilen. Er kann auch bedeuten, daß andere Genossen darauf verzichtet haben, die führenden Genossen der Komintern für die Sozialfaschismustheorie zu verurteilen. Meiner Meinung nach wäre beides schwerwiegende Fehler gewesen: nämlich Unterlassen von Kritik und Selbstkritik, so wie sie zum Beispiel im Revolutionären Weg 10 auf Seite 50ff beschrieben sind.

Weiter oben auf Seite 95 schreibt Ihr, daß die Genossen Dimitroff und Pieck »nicht offen die Sozialfaschismustheorie als eine der wesentlichen Ursachen für das Scheitern der Einheitsfront« erwähnt hätten. Auch das bedeutet doch, daß damals in der kommunistischen Bewegung Kritik und Selbstkritik nicht oder nicht genügend geübt worden sind. Ich glaube, daß dieser Vorwurf nicht zu halten ist.

Vor mir liegt ein Aufsatz von Walter Ulbricht: »Der VII. Weltkongreß der Komintern und die Kommunistische Partei Deutschlands« vom September 1935. Darin heißt es: »Der Faschismus ist der Hauptfeind«, und »… die KPD hat nicht rechtzeitig die notwendigen Schlußfolgerungen aus der veränderten Situation gezogen und richtete auch weiterhin den Hauptstoß gegen die Sozialdemokratie zu einem Zeitpunkt, als sie den Hauptstoß schon gegen den Faschismus hätte richten müssen.«

Das ist doch Selbstkritik, die den Kern der Frage trifft! Später klassifiziert Genosse Ulbricht die KPD-Politik, die Ergebnis der Sozialfaschismustheorie war, als »Reihe sektiererischer Fehler« und faßt dann zusammen: »Mit der Verwirklichung dieser Beschlüsse« (des VII. Weltkongresses) »überwindet die KPD endgültig die Überreste des Unverständnisses für die neue taktische Linie der Komintern und wird alle antifaschistischen Kräfte zum gemeinsamen Handeln heranziehen.«

Die Aussagen in dem Absatz, den ich kritisiert habe, stehen

auch im Widerspruch zur späteren revolutionären Politik von Komintern und KPD (soweit ich darüber Bescheid weiß). Ich schlage Euch deshalb vor, für die nächste Auflage des Revolutionären Wegs 11 diese Formulierungen zu ändern. Der Absatz könnte vielleicht so heißen: Statt »Wenn auch das« unten auf Seite 94 soll es weitergehen:

»Wenn auch Komintern und KPD in ihrer Selbstkritik, beim

Untersuchen der Fehler aus der Zeit vor der Machtübernahme Hitlers und bei der Erarbeitung der richtigen Taktik, die Sozialfaschismustheorie nicht mehr beim Namen nannten, so war doch ihre Verurteilung der sektiererischen Fehler offen und gründlich. Alle ehrlichen Genossen der damaligen Zeit haben aus dieser Kritik gelernt; nur den heutigen Sektierern kann das nicht gelingen.« Wenn meine Kritik richtig ist, haben wir alle gewonnen; wenn sie falsch ist, würde mir eine Nachricht von Euch weiterhelfen.

Bis dahin mit solidarischen Grüßen Ra.

.

6.11.73

Lieber Genosse Ra.!

Mir ist vom Verlag Neuer Weg Deine Kritik (Brief vom 16.10. 73) übermittelt worden. Hier meine Antwort.

Ich begrüße jede sachliche Kritik, auch wenn sie nicht immer zutrifft. Du hast recht mit Deiner Beurteilung des von Dir angeführten Satzes aus dem Revolutionären Weg 11, daß hier ein Vorwurf zum Ausdruck kommt, daß Kritik und Selbstkritik damals ungenügend gehandhabt wurde, das heißt, sofern es sich darum handelt, die Sozialfaschismustheorie »öffentlich zu verurteilen«. Da weder G. Dimitroff auf dem VII. Weltkongreß der Komintern noch W. Pieck auf der Brüsseler Parteikonferenz 1935 (übrigens auch W. Ulbricht in seiner Rede auf dem Brüsseler Kongreß) das Wort »Sozialfaschisten« erwähnten, ist das natürlich als stillschweigende Kritik an dieser schädlichen Theorie zu werten, auch wenn öffentlich keine Verurteilung erfolgte. Es muß aber sehr wahrscheinlich vor dem VII. Weltkongreß eine Sitzung des EKKI stattgefunden haben, wo dieses festgelegt wurde, das heißt, auf eine öffentliche Verurteilung zu verzichten. Nichtsdestoweniger sind die nachfolgenden Reden eine stillschweigende Verurteilung, wie es im Revolutionären Weg, Seite 94/95 richtig ausgedrückt wurde.

Das von Dir gebrachte Zitat von W. Ulbricht bezieht sich nicht auf die Sozialfaschismustheorie, sondern auf die Frage der sozialen Hauptstütze der Bourgeoisie, gegen die der jeweilige Hauptstoß geführt werden muß (siehe Grundsatzerklärung des KABD, S. 24). Da die Bourgeoisie 1931/32 die Sozialdemokratie als soziale Hauptstütze durch die NSDAP abzulösen begann (siehe Revolutionärer Weg 6, S. 80–85), mußte die KPD damals den Hauptstoß nicht mehr gegen die SPD, sondern gegen den Faschismus führen. Darauf bezieht sich die Kritik W. Ulbrichts. Das wurde auch 1935 auf der Brüsseler Parteikonferenz von W. Pieck kritisiert, als er die Stelle aus der Entschließung des Zentralkomitees vom Mai 1933 (siehe Zitat im Revolutionären Weg 11, S. 92) zitierte und daran wörtlich anknüpfte:

»So war eine solche Kennzeichnung natürlich nicht dazu geeignet, uns den Sozialdemokraten näherzubringen, die zwar schon in Opposition zu der Politik des Parteivorstandes standen, aber nicht den völligen Bruch mit der Sozialdemokratie vollzogen hatten.«

Bezieht sich »eine solche Kennzeichnung« auf den Ausdruck

»Sozialfaschisten« oder auf »soziale Hauptstütze der Kapitalsdiktatur«, das wird hier nicht eindeutig gesagt. Vielleicht ist auch beides gemeint.

Ich will hier auf ein anderes Zitat von W. Ulbricht aufmerksam machen. In »Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« Band l (1953) schreibt er:

»Deshalb wurde die Politik der sozialdemokratischen Führung als sozialfaschistisch charakterisiert. So treffend diese Einschätzung der sozialdemokratischen Führung war, so wurde sie doch mit der Zeit einfach auf die Sozialdemokratie als Partei angewandt, wodurch sich die sozialdemokratischen Werktätigen getroffen fühlten.«

Hier kann man den Eindruck bekommen, daß die Charakterisierung der sozialdemokratischen Führung als »sozialfaschistisch« durch die Führung der KPD beziehungsweise Komintern wohl richtig war, aber in der Praxis von den unteren Organen und Mitgliedern falsch angewandt worden war. Man kann auch daraus entnehmen, es wäre die Politik der sozialdemokratischen Führer von der SPD als Partei zu trennen gewesen. In dem theoretischen Organ »Unter dem Banner des Marxismus« 1/1930 heißt es in dem Artikel »Wirtschaftskrise und Sozialdemokratie«: »Den realen praktischen Bedürfnissen der sozialfaschistischen Politik entsprechend, haben die Ideologen des Sozialfaschismus der sozialfaschistischen Praxis eine theoretische Grundlage gegeben.« Wenn also die Politik der sozialdemokratischen Führer »sozialfaschistisch« ist, wirkt sich diese »sozialfaschistische« Politik auch in der Praxis der Sozialdemokratischen Partei aus, das heißt, dann ist auch die Partei als Ganzes »sozialfaschistisch«.

Diese Charakterisierung Ulbrichts: sozialdemokratische Führung ist »sozialfaschistisch«, sozialdemokratische Partei ist nicht »sozialfaschistisch«, trägt nur dazu bei, eine offene, ehrliche Kritik und Selbstkritik zu vertuschen. Außerdem steht sie im Widerspruch zu der Tatsache, daß auf dem VII. Weltkongreß und auf der Brüsseler Parteikonferenz stets nur von sozialdemokratischen Führern beziehungsweise sozialdemokratischen Gewerkschaftsführern und nicht von »sozialfaschistischen« Führern gesprochen wurde, denn wenn die Charakterisierung der sozialdemokratischen Führer als »sozialfaschistisch« nach den Worten Ulbrichts »zutreffend« war, brauchte dieser Ausdruck ja nicht fallengelassen zu werden. Ulbricht versucht, nachträglich die Sozialfaschismustheorie noch zu decken.

Darüber hinaus versucht er, seine eigene Schuld zu vertuschen, indem er in dem Neudruck seiner Reden und Aufsätze aus der Zeit von 1929–32, die er in dem Buch »Über die Gewerkschaften« Band l (1953) veröffentlichte, alle Stellen über die »sozialfaschistische« Führung herausretuschieren und durch »sozialdemokratische Führer, sozialdemokratische Gewerkschaftsführer oder reformistische Gewerkschaftsführer« ersetzen ließ. Das ist doch eine Roßtäuschermethode. Anstatt offene Selbstkritik zu üben, vertuscht er durch diese Retuschierung den schweren Fehler der Sozialfaschismustheorie.

Wir damaligen Kommunisten haben in der Zeit der faschistischen Diktatur in jahrelanger geduldiger Arbeit das Mißtrauen der sozialdemokratischen Mitglieder und Funktionäre gegen uns abbauen müssen. Es wäre leichter gewesen, wenn die Sozialfaschismustheorie öffentlich verurteilt worden wäre. Das hätte durch die Komintern geschehen müssen, was leider nicht geschehen ist. Das wird in dem von Dir kritisierten Satz im Revolutionären Weg 11 angedeutet. Eine andere Erklärung, als hier angegeben, ist kaum denkbar.

Das schließt natürlich nicht aus, daß intern eine Kritik und Selbstkritik geübt worden ist. Auch die KP Chinas hatte von 1956–63 ihre Kritik an der revisionistischen Politik der KPdSU intern geübt; erst 1963 wurde durch Chruschtschow die öffentliche Polemik eröffnet.

Im Revolutionären Weg 11 wurde zwischen stillschweigender Verurteilung der Sozialfaschismustheorie und Unterlassung einer öffentlich geführten Kritik unterschieden und auf die wahrscheinliche Ursache aufmerksam gemacht – mehr nicht. Es besteht also keinerlei Veranlassung, diese Stelle zu korrigieren und durch Deinen Vorschlag zu ersetzen, der irrtümlich annimmt, daß die Sozialfaschismustheorie »offen und gründlich« verurteilt worden wäre. Das war eben nicht der Fall, sondern die Verurteilung erfolgte nur durch stillschweigendes Fallenlassen.

Ich bitte Dich, das Problem noch einmal gründlich zu durchdenken und mir Deine Meinung mitzuteilen.

Mit freundlichen Grüßen Willi


.

10.11.73

Lieber Genosse Willi,

ich danke sehr für Deine ausführliche Antwort. Sie hilft mir, die Politik von KPD und Komintern besser zu verstehen und richtig zu kritisieren.

Es war mein Fehler, daß ich die wichtigen Quellen nicht gründlich genug studiert habe, bevor ich meinen Brief schrieb. Du hast mir geholfen herauszufinden, worin mein grundlegender Fehler bestand. Ich meine jetzt, daß ich mir den Unterschied der beiden Einschätzungen »Die SPD ist die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie« und »Die SPD ist sozialfaschistisch« gar nicht klargemacht habe, daß ich sie für gleichbedeutend genommen habe.

Es ist doch aber so, daß die zweite im Vergleich zur ersten eher oberflächlich ist, nur die Erscheinungsformen sozialdemokratischer Politik berücksichtigt. Die erste Einschätzung dagegen geht von der Entwicklung der Klassenkämpfe und der Klassenkräfte aus, sie gibt das Wesen der damaligen Sozialdemokratie richtig an, auf ihr kann eine korrekte kommunistische Politik aufbauen. Die SPD-Regierung unter Reichskanzler Müller war eine Regierung der Monopolkapitalisten, aber noch keine faschistische, noch nicht »die offen terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«. Und nachdem die SPD 1930 aus der Reichsregierung vertrieben wurde und 1932 aus der preußischen, konnte sie auch kaum mehr die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie sein; da hätte die KPD ihre Taktik ändern müssen.

Daß die Verurteilung der Sozialfaschismustheorie nicht auch in Worten offen und gründlich stattgefunden hat, wußte ich nicht. Ich dachte mir, daß die Politik der antifaschistischen Aktion und die Ergebnisse des VII. Weltkongresses Zeichen dafür gewesen wären. Die Ausführungen im Revolutionären Weg 11 und Dein Brief sind aber überzeugend …

Mit solidarischen Grüßen Ra.

Staat im staatsmonopolistischen Kapitalismus

19.8.73

Lieber Willi,

ich habe eine Frage zu dem Gewerkschafts-Manuskript. An drei Stellen wird davon gesprochen, daß Staat und Monopole miteinander verschmolzen beziehungsweise verflochten sind.

Davon zu sprechen ist zwar nicht falsch, aber es ist doch nur die halbe Wahrheit. »Verschmelzung« kennzeichnet die formale Seite des staatsmonopolistischen Kapitalismus, der Begriff »Unterordnung« den Inhalt. Stalin hat sich in »Ökonomische Probleme …« gegen den Ausdruck »Zusammenwachsen« gewandt, weil er nur »oberflächlich und beschreibend die Annäherung der Monopole und des Staates« feststellt, nicht aber »den ökonomischen Sinn dieser Annäherung« aufdeckt. Auch in der Grundsatzerklärung haben wir von Unterordnung des Staats unter die Monopole gesprochen.

Die »Stamokap«-Revisionisten stellen die Verschmelzung in Gegensatz zur Unterordnung, die sie leugnen. So versuchen sie, Staat und Monopole als gleichberechtigte Partner darzustellen, die eben verschmelzen, aber deren Verschmelzung man einfach dadurch wieder rückgängig machen könne, daß man den Staat (des Monopolkapitals) erobere und mit ihm die Monopole ausschalte. Die Rote Fahne hat dazu im April und im August Stellung genommen …

Rot Front! Karl

21.8.73

Lieber Karl

Besten Dank für Deinen Brief vom 19. 8. Ich bin einverstanden, wenn wir die »Unterordnung des Staats« noch einschalten. Grundsätzlich ist es jedoch so, daß jede herrschende Klasse sich den Staatsapparat unterordnet, es gibt keinen über den Klassen stehenden Staat. Der Unterschied zwischen dem Kapitalismus der freien Konkurrenz und dem Monopolkapitalismus in der Frage des Staats besteht darin, daß sich die Monopole den Staatsapparat restlos unterordnen. Die Bedeutung des staatsmonopolistischen Kapitalismus liegt darin, daß die Wirtschaft eine Entwicklung genommen hat, die über die Kraft der einzelnen Monopole hinausgeht, und daß der Staatsapparat immer mehr wirtschaftliche Funktionen übernimmt, die mit denen der Monopole verschmolzen sind. Die Revisionisten lehnen neuerdings diesen Prozeß der Verschmelzung des Staatsapparats mit den Monopolen ab (siehe das Buch: »Der staatsmonopolistische Kapitalismus«, S. 75/76). Ich will hier nicht näher darauf eingehen.

Da aber die restlose Unterordnung des Staatsapparats unter die Monopole die Voraussetzung der Verschmelzung von Monopolen und Staatsapparat ist, wollen wir das doch betonen. Ändere darum die Stellen auf Seite 11 in:

»Inzwischen haben die Monopole sich den Staatsapparat restlos untergeordnet und durch Übernahme wirtschaftlicher Funktionen durch die Staatsorgane im Interesse der Monopole sich mit ihm verschmolzen …«

Herzlichen Gruß
Willi

Lieber Karl
25. 8. 73

Ich möchte doch noch mal auf Deinen Brief vom 19. 8. und meine Antwort vom 21. 8. eingehen. Du beziehst Dich ebenso wie die Rote Fahne 4/73 auf ein Stalinzitat. Das ist aber eine dogmatische Übernahme eines Zitats, das wir lieber nicht verwenden sollen:

1. Stalin hat hier keine Definition des »staatsmonopolistischen Kapitalismus« gegeben, sondern am Rande seiner hervorragenden Arbeit »Ökonomische Probleme des Sozialismus« unter dem Eindruck seiner Polemik mit anderen sowjetischen Genossen eine Antwort aus dem Zusammenhang geschrieben, ohne es wissenschaftlich zu begründen. Wir wissen nicht, in welchem Zusammenhang diese Stelle mit den Auffassungen anderer Genossen steht.

2. Stalin hat das Buch 1951 als Kritik zu dem Entwurf eines Lehrbuchs der politischen Ökonomie geschrieben, also zu einer Zeit, als die neue technische Revolution am Anfang stand. Diese hat aber den Prozeß der Verschmelzung der Monopole mit dem Staatsapparat beschleunigt.

3. Stalin stellt die »Unterordnung des Staatsapparats unter die Monopole« in den Vordergrund, das heißt als Hauptseite hin. Das trifft auf den Monopolkapitalismus zu, aber nicht auf den staatsmonopolistischen Kapitalismus. Den Ausdruck erwähnt Stalin auch nicht. Im Kapitalismus der freien Konkurrenz mußten die Kapitalisten die Staatsmacht mit den Feudalherren teilen, weil sie ihre bürgerliche Revolution aus Angst vor dem erwachenden Proletariat nicht zu Ende führten. Beim Übergang zum Monopolkapitalismus ordneten sich die Monopolkapitalisten durch ihre imperialistische Politik den Staatsapparat mehr und mehr unter, in Deutschland noch im Bündnis mit den Junkern (die besondere Aggressivität des deutschen Imperialismus) und nach 1918 immer mehr als Alleinherrschaft. Durch den Übergang des Monopolkapitalismus zum staatsmonopolistischen Kapitalismus wurde die Unterordnung des Staats unter die Monopole vollkommen, sozusagen restlos durchgeführt. Du irrst, wenn Du darin den alleinigen Inhalt des staatsmonopolistischen Kapitalismus siehst und in der »Verschmelzung« nur eine formale Seite, eher umgekehrt.

4. Wenn Stalin in dem Zitat tatsächlich den staatsmonopolistischen Kapitalismus meinen sollte, was nicht daraus hervorgeht, dann stände er im Gegensatz zu Lenin, der bereits 1917 die Verschmelzung der monopolkapitalistischen Gruppe mit dem Staatsapparat als entscheidend herausstellte, »die Vereinigung der Riesenmacht des Kapitalismus mit der Riesenmacht des Staates zu einem einzigen Mechanismus.. .« (Lenin Werke Bd. 24, S. 401).

Die zunehmenden selbständigen Streiks machen es erforderlich, die Herausgabe des Revolutionären Wegs 11 und 12 zu beschleunigen. Überlege bitte mit M., ob das möglich ist.

Herzlichen Gruß
Willi

Nach dem Zusammenbruch der KPD/ML (ZB): Was tun?

Lieber Dietmar! 5. 1. 74

Deine beiden Briefe habe ich dankend erhalten; ich will Dir eine Antwort geben, die Dir vielleicht nicht gefallen wird. Sie soll Dich anregen, über Deine Einstellung und Weiterentwicklung gründlich nachzudenken.

Deine Beschwerde an den Verlag Neuer Weg vom 24. 12., daß Du auf Deine Kritik an der Roten Fahne bisher keine Antwort bekommen hast, ist berechtigt, jedoch hast Du zum Teil selbst schuld, weil Du Dich nicht an meinen allzu berechtigten Hinweis gehalten hast, Dich auf die Kritik der von Dir beanstandeten Artikel in der Roten Fahne zu beschränken und nicht die Organisation einzubeziehen. Das hast Du nicht beachtet, darum hat die Redaktion Deine Kritik an die Zentrale Leitung weiter geleitet, ohne dabei festzulegen, wer die Beantwortung übernehmen soll. Das ist der sachliche Hintergrund, warum Du noch keine Antwort bekommen hast. Das entschuldigt natürlich nicht, daß der Empfang Deiner Kritik bis heute nicht bestätigt wurde. Ich weiß aber, daß die Zentrale Leitung Deinen Brief bekommen hat.

Doch nun zu dem, was mich bewegt, Dir ausführlich zu schreiben. Es geht um Deine Einstellung und Haltung, die aus verschiedenen Papieren, die Du verfaßt hast, und auch aus Gesprächen, die wir geführt haben, zum Ausdruck kommen. Offen gesagt: Mir macht Deine weitere Entwicklung Sorgen. Als vor jetzt einem Jahr die Zentralbüro-Organisation zerbrach, hast Du wohl erkannt (Du wirst Dich an unsere ersten Diskussionen erinnern), daß die Hauptursache des Zusammenbruchs der Zentralbüro-Organisation der maßlose Führungsanspruch der kleinbürgerlichen Intellektuellen war, die die marxistisch-leninistischen Grundsätze des Parteiaufbaus durch ihr kleinbürgerliches Machtstreben mißachteten. Es muß hier aber festgehalten werden, daß Du keinen Anteil an der Entlarvung und Bekämpfung des kleinbürgerlichen Einflusses in der marxistisch-leninistischen Bewegung im allgemeinen und der Zentralbüro-Organisation im besonderen hattest.

Im Gegenteil, Du hast viel dazu beigetragen, um diese Entwicklung zu fördern, allerdings unbewußt.

Plötzlich fällst Du aus allen kleinbürgerlichen Himmeln – enttäuscht, empört und verbittert. So wichtig es ist, den kleinbürgerlichen Einfluß in der Arbeiterbewegung zu erkennen und systematisch zu bekämpfen, so muß man doch berücksichtigen, daß man das Eindringen kleinbürgerlicher Elemente in eine proletarische Partei nicht verhindern kann. Man muß nur darauf achten, daß diese nicht die Oberhand gewinnen und daß sie gewillt sind, sich von den Arbeitern umerziehen zu lassen. Lenin schreibt darum sehr treffend:

»Wenn die Arbeiterpartei besonders schnell wächst (wie dies bei uns in den Jahren 1905/1906 der Fall war), ist es unvermeidlich, daß zahlreiche, von kleinbürgerlichem Geist durchdrungene Elemente in die Partei eindringen. Und daran ist nichts Schlimmes. Die historische Aufgabe des Proletariats besteht darin, alle Elemente der alten Gesellschaft, die diese in Gestalt der aus dem Kleinbürgertum stammenden Menschen dem Proletariat hinterläßt, zu verdauen, umzumodeln und umzuerziehen. Dazu ist jedoch erforderlich, daß das Proletariat diese Menschen umerzieht, daß das Proletariat auf sie Einfluß bekommt, nicht aber sie auf das Proletariat.« (Lenin Werke Bd. 16, S. 48/49)

Das ist wie für heute geschrieben. Dabei müssen wir berücksichtigen, daß sich das Kleinbürgertum in der Arbeiterpartei nicht nur auf die kleinbürgerlichen Intellektuellen beschränkt, sondern auch in die Massen des Proletariats eindringt, gefördert durch die Massenmedien der Bourgeoisie und durch Beeinflussung eines höheren Lebensstandards, den nicht wenige Arbeiter und Angestellte durch Mitarbeit der Frau sich erworben haben. Es wäre falsch, vor diesen Erscheinungen seine Augen zu verschließen. Kleinbürgerliche Herkunft ist allein nicht für eine kleinbürgerliche Einstellung verantwortlich zu machen, auch die proletarische Herkunft verbürgt noch keine proletarische Einstellung. So verständlich die Reaktion einzelner Arbeitergruppen ist, sich von der Führung der kleinbürgerlichen Intellektuellen zu befreien (was zu begrüßen ist), so halte ich es doch für falsch, das Kind mit dem Bade auszuschütten, das heißt, sich auch von den gutwilligen und ehrlichen Intellektuellen, die uneigennützig mit ihrem Wissen der Arbeiterklasse helfen wollen, abzustoßen. Damit wird das Problem des kleinbürgerlichen Einflusses in der Arbeiterbewegung nicht gelöst. Wenn das so einfach wäre, hätte Lenin das obige Zitat anders geschrieben.

Nun zu Deinen Fehlern. Du bist als kleinbürgerlicher Intellektueller mit der marxistisch-leninistischen Bewegung in Berührung gekommen und hast Dich wie auch andere Kleinbürger in die politische Arbeit gestürzt. Mit besonderem Eifer unterstütztest Du die kleinbürgerliche Führung, die sich anmaßte, »Zentralbüro« zu spielen. Deine Enttäuschung beruhte im Grunde doch auf der Erfolglosigkeit der Zentralbüro-Führung, nicht aber auf der Erkenntnis und richtigen Einschätzung der Schädlichkeit des Einflusses der kleinbürgerlichen Intellektuellen-Führung. Erst der zwangsläufig einsetzende und nicht mehr aufzuhaltende Zusammenbruch der Zentralbüro-Organisation und die nachfolgenden Diskussionen, die wir über die Ursache führten, öffneten Dir die Augen.

Aus dem Gefühl, Dich irgendwie zu rechtfertigen, machtest Du den Fehler, die Frage des kleinbürgerlichen Einflusses in der Arbeiterbewegung zum Hauptproblem, gewissermaßen zum Nabel der Welt zu machen, und stürztest Dich wie der Erzengel Michael auf den kleinbürgerlichen Drachen, um ihn mit Deinen Papieren zu erschlagen. Dabei hast Du gar nicht begriffen, daß Du an das Problem selbst kleinbürgerlich herangegangen bist. Gerade durch die Erstellung mehrerer Papiere, auf die ich inhaltlich im einzelnen nicht eingehen will, hast Du gehandelt wie ein kleinbürgerlicher Intellektueller, aber nicht wie ein Proletarier. Meinen gutgemeinten Hinweis: Weniger Papiere, mehr praktische Arbeit! hast Du nicht verstanden oder wolltest Du nicht verstehen, weil Dein innerer Drang nach Rechtfertigung Dich dazu trieb. Es kommt nicht auf »Rechtfertigung« an, sondern auf die Überwindung des kleinbürgerlichen Teufels in sich selbst.

Sicher ist es mal nötig, und ich hatte mit Dir und Heinz darüber gesprochen, die Frage des kleinbürgerlichen Einflusses in der Arbeiterbewegung theoretisch zu beleuchten, doch zur Überwindung des kleinbürgerlichen Einflusses muß man von der Praxis aus herangehen. Das geschieht

  1. durch Gewinnung der fortgeschrittensten Arbeiter für die revolutionäre Partei und
  2. durch Entwicklung der fähigsten Arbeiter zu führenden Kadern.

Das ist nur durch die tägliche Praxis im Betrieb und in der Gewerkschaft in Verbindung mit der Schulung über die marxistischleninistische Theorie möglich. Persönliche Erfahrung und Schulung sind das Bindeglied zwischen Theorie und Praxis. Persönliche Erfahrung sammelt man in der politischen Arbeit und im Klassenkampf.

Hier will ich gleich etwas einschalten. Dein Schulungsplan ist dogmatisch und viel zu abstrakt. So kann man dem Revisionismus nicht zu Leibe rücken. Eine Schulung, die nicht mit der lebendigen Praxis verbunden ist, hat ihren Sinn verloren, so wie der Cheftheoretiker des Zentralbüros heute in einer kleinen Gruppe über Marx‘ Kapital »schult«. Du hättest besser daran getan, in Deiner Gruppe die Betriebs- und Gewerkschaftsprobleme, wie sie im Revolutionären Weg 11 und 12 behandelt wurden, zum Thema zu wählen. Die hier behandelten Fragen fußen nicht nur auf theoretischen Erkenntnissen, sondern auf langjähriger Betriebs- und Gewerkschaftspraxis. Eine Frage: Schreckst Du vielleicht davor zurück, um nicht Deine jetzige Arbeitsstelle zu gefährden? Ist Deine Aktivität in der Erstellung von Papieren etwa eine Ablenkung von einer unzureichenden Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit? Du mußt doch erkennen, wo der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt; denn nur durch die obengenannten zwei Punkte überwinden wir das Kleinbürgertum. Der Schlüssel dazu ist eine aktive Betriebsund Gewerkschaftsarbeit. Meine Kritik bedeutet nicht, daß ich Dein Bemühen um Schulung nicht anerkenne. Aber allein die angeführte Literatur für das Schulungsthema ist doch typisch kleinbürgerlich-intellektuell. Damit erschlägst Du auch den willigsten Arbeiter. Lieber Dietmar, lerne doch erst mal von den Arbeitern, damit Du verstehen kannst, was Du ihnen zumuten kannst.

Mit der gleichen kleinbürgerlichen Art und Weise, wie Du an die Schulung herangehst, bist Du auch an die Kritik der Roten Fahne herangegangen. Bei Deinem ersten Kritikentwurf bist Du schon dadurch falsch herangegangen, daß Du den Inhalt des Revolutionären Wegs 11 und 12 dem der Roten Fahne gegenüberstelltest. Sachlich gesehen befaßt sich das theoretische Organ ausführlich mit einem bestimmten Problem und wirkt in der Hauptsache propagandistisch. Das Zentralorgan spiegelt das tägliche Leben und den Kampf der Arbeiterklasse wider und wirkt in der Hauptsache agitatorisch durch die regelmäßige Beeinflussung der Öffentlichkeit. Natürlich muß das Zentralorgan, trotz Vorhandensein eines theoretischen Organs, auch Grundsatzartikel enthalten, und Agitationsartikel müssen grundsätzlich ausgerichtet sein. Du kannst nicht bestreiten, daß das der Fall ist. Warum dann das Neben- beziehungsweise Gegeneinanderstellen der beiden Organe. Ist diese Art und Weise nicht auch kleinbürgerlich?

Du hast einige Artikel in der Roten Fahne mit Recht kritisiert, weil sie bei der Behandlung anderer Gruppen, statt sich sachlich mit deren Politik auseinanderzusetzen, einen subjektiven Ton enthielten. Das wird zukünftig bereinigt, weil eine Veränderung der Redaktion vorgenommen wird, zum Teil schon ist. Wenn Dein Hinweis in Deinem Brief an mich (24. 12. 73) auf die Rote Fahne 12/73 sich auf den Artikel »Wem nützt die ›RGO‹-Politik?« bezieht, dann bin ich der Meinung, daß man nicht päpstlicher sein soll als der Papst, das heißt, man braucht nichts zu übertreiben, auch die Kritik nicht. Sieh mal, eine Kritik, wenn sie kameradschaftlich und nicht feindlich sein soll, bezieht auch das Positive mit ein, sonst wirkt eine Kritik herunterreißend und negativ – und das ist auch kleinbürgerlich. Du glaubst in Deiner Kritik, eine durch und durch kleinbürgerliche Redaktion zu erkennen und zu verurteilen. Ein solches Herangehen ist doch selber kleinbürgerlich. Wie viele Arbeiter schreiben für die Rote Fahne, betrachten die Gestaltung der Zeitung auch als ihre Sache, gehören zum Mitarbeiterstab der Redaktion. Sie üben auch Kritik, um die Rote Fahne zu verbessern, aber sie negieren nicht, sie machen positive Vorschläge, helfen den Intellektuellen im Kollektiv, ihre noch vorhandenen kleinbürgerlichen Eierschalen abzustreifen. Alle befinden sich im Lernprozeß, ob Redaktion oder Mitarbeiterstab, ob Intellektueller oder Arbeiter, ob Genosse oder Sympathisant, die die Rote Fahne als ihr Kampforgan im täglichen Kampf benutzen.

Auch die Kritik gehört zum Lernprozeß, sowohl für die Kritisierten wie auch für die Kritiker. Du kritisierst zu Recht den subjektivistischen Ton in einigen Artikeln, aber ohne eine Gesamtbeurteilung der Roten Fahne zu geben, das heißt auch das Positive herauszugreifen und zu analysieren, um festzustellen, was überwiegt. Ein Beispiel: Als Genger seine Broschüre »Die proletarische Linie« herausgab, habe ich sie im großen ganzen als positiv bezeichnet, ohne geringfügige Fehler zu berücksichtigen. Daß die Herausgabe dieser Broschüre von G. ein gerissenes Manöver war, um der Betriebsgruppe l den Weg in die KPD/ML zu ebnen, ist eine andere Sache, ebenso daß er nachher im Zentralbüro genau entgegengesetzt zu den in der Broschüre enthaltenen Prinzipien gehandelt hat. Marxistische Kritik muß man auch lernen. Es sieht nicht so aus, als ob Du das gelernt hast. Deine Kritik ist eine mit erhobenem Zeigefinger, überheblich, verächtlich auf das vermeintliche Kleinbürgertum der Roten Fahne und des KABD schauend, besserwissend, nicht kameradschaftlich und helfend. Sie ist im Grunde genommen kleinbürgerlich. Grundlegend falsch war es, Deine Kritik an einigen Artikeln der Roten Fahne ohne weiteres auf die Organisation und deren Leitung zu übertragen; und Du wunderst Dich auch noch, bis jetzt keine Antwort bekommen zu haben. Obwohl ich Dich bereits auf diesen Fehler im ersten Entwurf Deiner Kritik hingewiesen habe, wiederholst Du ihn in der überarbeiteten Kritik und obendrein noch in dem Brief vom 24.12. an den Verlag, wo es heißt:

»Wenn Ihr natürlich gegenüber außenstehenden Genossen, die nicht in Eurer Organisation tätig sind, diese Haltung einnehmt, muß ich daraus schließen, daß ihr keinerlei Interesse daran habt, die Fehler Eurer Organisation (jetzt sind es schon keine Fehler der Roten Fahne mehr – W. D.) zu erkennen, muß ich weiter daraus schließen, daß Ihr in der Frage der Kritik und Selbstkritik die gleiche falsche Haltung einnehmt wie -zig kleinbürgerliche Organisationen in der BRD.«

Ich hatte Dir bereits gesagt, daß es unsinnig sei, über eine Organisation zu urteilen, die man nicht kennt und von der man nicht weiß, was dort vorgeht. In Deinem Brief geht es schon nicht mehr um Fehler der Roten Fahne. Du machst daraus, mir nichts Dir nichts, einfach »Fehler Eurer Organisation« und »damit seid ihr gleichzusetzen mit den -zig kleinbürgerlichen Organisationen«. Was sollen die Genossen, die diesen Brief bekommen und Dich nicht kennen, von dem Schreiber halten, der, ohne die Organisation zu kennen, ohne eine Analyse der Politik dieser Organisation zu machen, in einer solchen Art und Weise urteilt? Sie müssen doch an Deiner Urteilsfähigkeit zweifeln. Ist diese Deine Handlungsweise nicht durch und durch kleinbürgerlich? Man kann nicht gegen das Kleinbürgertum in der Arbeiterbewegung anrennen wie gegen Windmühlenflügel. Man kann nicht den kleinbürgerlichen Einfluß in der Arbeiterbewegung erfolgreich bekämpfen, ohne vor allem den Kleinbürger in sich selbst überwunden zu haben.

Hier will ich aus einem Brief eines zuverlässigen Genossen zitieren, der an seinen Freund, der ebenfalls Genosse ist, über den kleinbürgerlichen Einfluß schreibt:

»Wir Intellektuellen werden durch Denken allein nicht umgeformt, sondern in erster Linie durch die praktische Parteiarbeit. Fehlt diese für längere Zeit und sind die Arbeitsbedingungen auch sonst nicht günstig, so können leicht kleinbürgerliche Einstellungen wieder zum Vorschein kommen, spontan und unbemerkt. Daraus müssen wir die Lehre ziehen und genau darauf achten: Die Kritik an anderen muß zuerst bei einem selbst anfangen, und zwar nicht nur den Bereich theoretischer Überlegungen betreffend, sondern genauso bezüglich der inneren Einstellung. Vielleicht habe ich die ›innere Einstellung‹ noch nicht deutlich genug gemacht. Sie ist das Bindeglied zwischen Denken und Handeln. Erst wenn das eigene Fühlen und Wollen vom marxistischen parteimäßigen Standpunkt wirklich durchdrungen sind, wird sich eine Einheit zwischen Theorie und Praxis herstellen lassen. Auf dieses Bindeglied haben wir Intellektuelle, die kleinbürgerlicher Herkunft sind, besonders zu achten, da es Quelle spontaner, immer wiederkehrender, zumeist unbemerkter kleinbürgerlicher Regungen ist.« So weit die Briefstelle, über die nachzudenken sich wirklich lohnt. Lieber Dietmar, ich schreibe Dir das alles in kameradschaftlicher Offenheit, denn es ist zu befürchten, daß Du zurückfällst, statt Dich vorwärts zu bewegen. Das Falscheste ist, sich aufs hohe Roß zu setzen, statt Dich bescheiden in das Fußvolk einzureihen. Die nächste Ausgabe der Roten Fahne wird einen Artikel von mir über Lenin enthalten, der wichtige Lehren für unseren heutigen Kampf beinhaltet. Studiere ihn gründlich, denn er bringt auch Aufschluß über die hier behandelten Probleme.

Wegen Deinem Besuch bitte ich zu berücksichtigen, daß ich im Januar schon alle Wochenenden besetzt habe. Schreibe bitte umgehend, wann Ihr kommt.

Du wolltest Dir von der »Selbstkritik des Verlages KT«, die Du letztens mitgenommen hattest, eine Fotokopie machen und sie mir dann zurückschicken. Da ich die Schrift schon mehrfach gebrauchen konnte, bitte ich Dich, sie mir umgehend zurückzuschicken. So war kürzlich W. Heuzeroth bei mir, der berichtete, daß G. Ackermann ihn, H., als Agenten bezeichnet hätte. Das ist die Methode »Haltet den Dieb!«

Die besten Neujahrsgrüße

mit Rot Front!

Willi

Übersetzungen