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V. - 4. Die neuimperialistische Türkei an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien

Durch ihre Lage zwischen Europa, Asien und Afrika hat die Türkei eine besondere geopolitische, wirtschaftliche und militärstrategische Bedeutung. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs infolge des I. Weltkriegs wurde das Land zu einer Halbkolonie verschiedener impe­ria­listischer Länder. 1923 wurde nach einem natio­nalrevolutionären Befreiungskrieg unter Führung Mustafa Kemal Atatürks die türkische Republik gegründet. Er verfolgte eine Politik zugunsten der nationalen Bourgeoisie: für nationale Unabhängigkeit, kapitalistische Industrialisierung, Modernisierung und Säkularisierung72 des Landes und zur Einschränkung imperialistischer Einflussnahme.

1927 lebten in der Türkei 13,7 Millionen Menschen, heute sind es 79 Millionen. Die große Mehrheit der Bevölkerung sind Muslime.

1952 wurde die Türkei Mitglied der NATO und geriet in neokoloniale Abhängigkeit, besonders vom US-Imperialismus. 1960, 1971 und 1980 putschte das Militär im Interesse des Imperialismus und der einheimischen Großbourgeoisie, unterstützt und gefördert von der NATO und der CIA. Die Militärputsche 1971 und 1980 waren verbunden mit der blutigen Unterdrückung der erstarkten Arbeiterbewegung und der revolutionären Linken.

Bereits in den 1960er-Jahren entwickelten sich bedeutende türkische Monopole wie die Koç Holding oder Oyak. Letzteres bildete sich aus einem Pensionsfonds der Streitkräfte und umfasst heute fast 90 Unternehmen und Beteiligungen in verschiedenen Branchen.

In den 1980er-Jahren forcierten die Monopole die beschleunigte Umwandlung der Türkei zu einem kapitalistischen Industrieland – das geschah mithilfe des Staates unter Einsatz von ausländischem Kapital. 1971 wurde der Unternehmerverband TÜSIAD gegründet, der sich im Interesse der internationalen und nationalen Monopole Einfluss auf die staatlichen Entscheidungen verschaffte.

Die allgemein bedeutende gesellschaftliche Rolle des türkischen Militärs, die besonders nach dem Militärputsch 1980 noch zunahm, beschleunigte die Herausbildung von Strukturen des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Der Militärputsch 1980 leitete einen Kurswechsel zum Neoliberalismus ein: Die vom IWF diktierte Privatisierung staatlicher Betriebe förderte die Verschmelzung des Industrie-, Bank- und Handelskapitals mit Teilen der reaktionären Agraroligarchie. Die so entstandende einheimische Monopolbourgeoisie stand aber immer noch weitgehend unter dem Diktat des ausländischen Finanzkapitals. Internationale Monopole wie Toyota, Daimler, Ford, Renault, Bosch, Fiat oder RWE haben Produktionsstandorte in der Türkei.

Arbeiteten Ende der 1970er-Jahre über 50 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft, so waren es 2014 nur noch knapp 20 Prozent. 74 Prozent der Bevölkerung lebten 2016 in Städten, Mitte der 1970er-Jahre waren es erst 40 Prozent. Es entstand ein modernes internationales Industrieproletariat. Etwa drei Millionen arbeiten in Produktionsstätten der Textil- und Bekleidungsindustrie, mehr als 50.000 bei internationalen und türkischen Elektrokonzernen. Rund 400.000 sind in der Automobilbranche bei 17 Herstellern und rund 4000 Zulieferunternehmen beschäftigt.73

Die schwere Weltwirtschaftskrise 2001 verstärkte für die türkischen Monopole den ökonomischen Zwang zur Expan­sion. Das führte zu einer offenen Regierungskrise, von der auch die Ideologie des Kemalismus und Säkularismus erfasst wurde. Das eröffnete Spielräume für die vorgeblich »moderat-islamische« AKP ­unter Führung Recep Tayyip Erdo˘gans und im Bündnis mit der islamistischen Gülen-Bewegung. Erdo˘gan konnte religiöse und kleinbürgerlich-nationalistische Gefühle unter Teilen der Massen verbreiten und verankern und die Parlamentswahlen 2002 gewinnen. Das wurde von den USA und der EU vehement gefördert.

Soziale und politische Reformen der Regierung Erdo˘gan, auf Grundlage eines wirtschaftlichen Aufschwungs, ermöglichten ihr, die notwendige Massenbasis aufzubauen für das Großmachtstreben der Türkei.

2004 wurde ein neues Investitionsfördergesetz beschlossen, das in- und ausländische Investoren gleichstellte. Es folgte eine neue Welle der Privatisierung von Staatsunternehmen: des Stromnetzes, von Häfen, Infrastrukturprogrammen, Gebäu­den, Ländereien etc. Das bewirkte einen sprunghaften Anstieg des Kapitalimports und einer kreditfinanzierten Erweiterung des Binnenmarkts. Und es beschleunigte die Kapitalakkumulation in der Türkei, die auch den türkischen Monopolen zugutekam. Seit 2002 verdreifachte sich das Brutto­inlandsprodukt der Türkei.

Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals in der Türkei hatte bis 2014 485874 Großunternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten geschaffen; 1628 davon in der verarbeitenden Industrie. 2016 gehörten zehn türkische Monopole zu den 2000 größten der Welt.75

Seit dem Irakkrieg 2003–2011 weiteten türkische Monopole ihren Einfluss im Nahen Osten stetig aus. 2014 beteiligte sich das Ölmonopol Türkiye Petrolleri A. O. (TPAO) mit 1,9 Milliarden US-Dollar am Erdgasfeld Shah-Deniz und an der Südkaukasus-Pipeline in Aserbaidschan.76

Die größte Fluglinie, Turkish Airlines, erweiterte sprunghaft die Zahl ihrer Zielflughäfen in Afrika von zwei auf 48; ihr Passagieraufkommen verdoppelte sich fast seit 2011: auf 61,2 Millionen.77 Von bisher dominierenden Gesellschaften wie Air France, British Airways oder Lufthansa eroberte sie Marktanteile, insbesondere in den westafrikanischen Staaten Ghana, Benin, Kamerun, Nigeria.78

Das größte türkische Monopol ist die Koç Holding, ein Mischkonzern, unter anderem aktiv in der Autoindustrie, der Energiewirtschaft und bei Finanzdienstleistungen. Mit einem Umsatz von 25,5 Milliarden US-Dollar hat sie als erstes türkisches Monopol den Aufstieg in die 500 internationalen Übermonopole geschafft.79 Die Koç Holding unterhält Produktionsbetriebe in Russland, Thailand, China, Südafrika und Rumänien und beutet die Arbeiter dieser Länder aus. Über Joint Ventures, insbesondere mit Ford und Fiat, bestimmt sie 48 Prozent der Autoproduktion der Türkei. Zwischen 1990 und 2015 steigerten türkische Monopole ihren Kapitalexport von 1,2 auf 44,7 Milliarden Dollar, also um fast das 40-Fache.80

In der Außenpolitik begründete die AKP-Regierung ihre Machtansprüche im Nahen und Mittleren Osten sowie Nord-Afrika mit dem sogenannten »Neo-Osmanismus«. Dazu förderte sie religiös verbrämte faschistische Terror­organisationen wie Al Nusra und »Islamischer Staat« (IS).

Schon in den 1970er-Jahren machte die Türkei Anstrengungen, eine eigenständige Rüstungsindustrie aufzubauen. 1974 wurde die »Stiftung zur Stärkung der türkischen Streitkräfte« (TSKGV) gegründet – als Antwort auf ein von den USA verhängtes Waffenembargo gegen die Türkei.81 Der Auf- und Ausbau des militärisch-industriellen Komplexes wurde zum Schrittmacher des türkischen neuimperialistischen Expansionsstrebens. Die Produktion von Rüstungsgütern wuchs seit 2011 jährlich um 21 Prozent. Das jährliche Militärbudget wuchs 2016 gegenüber 2015 um 1,25 Milliarden US-Dollar für militärische Produkt- und Technologieentwicklung. Das führende türkische Rüstungsmonopol ASELSAN verzeichnet heute ein Wachstum der Nachfrage von 273 Prozent gegenüber 2015.

Im August 2016 unterzeichnete der türkische Rüstungskonzern BMC mit der deutschen Rheinmetall AG und der malaysischen Etika Strategi ein Abkommen über die Gründung einer gemeinsamen Tochtergesellschaft (RBSS). Es ermöglicht dem türkischen Militär und anderen Armeen, »gepanzerte Systemlösungen« zur Herstellung von modernsten Panzerfahrzeugen auf Räder- und Kettenfahrgestellen anzubieten. Seit 2015 sind die Streitkräfte Katars zu 49 Prozent am türkischen Rüstungskonzern BMC beteiligt. Im April 2017 schloss die Türkei mit Katar einen Vertrag über die Lieferung von 1500 Panzerfahrzeugen. Der Bau des ersten Flugzeugträgers bis 2021 unterstreicht die imperialistischen Ambitionen der Türkei.

Mit ihrem Staatsterror setzt die neuimperialistische Türkei die verschiedenen Waffensysteme, Geheimdienste, Polizei, Militär und Paramilitär brutal ein: gegen die kurdische Bevölkerung und deren Befreiungskampf, aber auch gegen Kämpfe der Arbeiterklasse und der breiten Massen.

Mit 493 000 Mann ist die türkische Armee die zehntstärkste weltweit und – nach den USA – die zweitstärkste in der NATO.82

Die ehemals neokoloniale Abhängigkeit der Türkei vom Imperialismus wandelte sich in eine wechselseitige Durchdringung zwischen der neuimperialistischen Regionalmacht Türkei, dem US-Imperialismus, der EU und dem deutschen Imperialismus. Auf der Grundlage ihrer geopolitischen Schlüsselrolle nutzt die AKP-Regierung die wachsenden Widersprüche zwischen den USA, der EU, Russland und China. In der Krise der Flüchtlingspolitik der EU 2015 missbrauchte die Türkei Millionen Menschen, die aus dem Irak oder den Kriegsgebieten Syriens über die Türkei nach Europa emigrieren wollen, als Druckmittel für die Durchsetzung ihrer neuimperialistischen Politik.

In den meisten Moscheen Deutschlands stellt die Türkei den Imam. Der türkische Staat finanziert diese Imame, bildet sie aus und sucht in Verbindung mit den türkisch-sprachigen Massenmedien die Bevölkerungsteile türkischer Herkunft zu vereinnahmen für die reaktionäre Politik der Türkei. Etliche »Geistliche« wurden bislang schon als Mitarbeiter des türkischen Geheimdiensts überführt.

Die Attraktion der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei und die Manipulation der öffentlichen Meinung hat der Regierung Erdo˘gan bis 2015 eine Rückkehrwelle von hunderttausenden Emigranten aus der EU beschert.

Der gescheiterte Militärputsch im Juni 2016, ausgeführt von Teilen der türkischen Armee, erfolgte nicht zufällig gerade nachdem Erdo˘gan die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit mit Russland und dem Shanghai-Bündnis ins Spiel gebracht hatte. Eine wichtige Rolle bei dem Putschversuch spielten diejenigen Truppenteile, die stark in NATO-Strukturen eingebunden waren. Sie stützten sich auf die – von den USA geförderte – antikommunistische und faschistoide islamistische Gülen-Bewegung, die 2013 mit Erdo˘gan gebrochen hatte. Erdo˘gan nahm den gescheiterten Putsch als willkommenen Vorwand, den Ausnahmezustand zu verhängen und eine Massenbasis zu schaffen für die Errichtung ­einer faschistischen Diktatur. Im April 2017 ließ die Regierung – unter Bedingungen des Ausnahmezustandes – ein manipuliertes Referendum durchführen. Damit wollte sie der faschistischen Zerschlagung demokratischer Rechte und Freiheiten einen demokratischen Anstrich verpassen. Doch der antifaschistische Widerstand und der Kampf für Freiheit und Demokratie entwickeln sich – trotz brutaler Unterdrückung der revolutionären und demokratischen Opposition und des kurdischen Volkes.