V. - 3. Die neuimperialistische Dominanz Indiens auf dem indischen Subkontinent
Zu Beginn seiner staatlichen Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 entwickelte Indien als rohstoff- und bevölkerungsreiches Land eine relativ allseitige Basis der Industrialisierung und Produktion von Investitionsgütern. Dazu diente die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und kapitalistischer Großbetriebe. Nach 1956 wurde eine eigenständige Entwicklung durch den Neokolonialismus der sozialimperialistischen Sowjetunion weitgehend eingeschränkt. In dieser Zeit entwickelte Indien auch ausgeprägte bürokratisch-kapitalistische Züge – ein materieller Ausgangspunkt für die spätere Herausbildung des staatsmonopolistischen Kapitalismus.
Mit der »Grünen Revolution« wurde eine kapitalistische Industrialisierung der Landwirtschaft eingeleitet. Das Gesetz zur Aufhebung der Fronarbeit 1976 setzte die dazu notwendigen Landarbeiter frei. Es war die Weichenstellung zu einem enormen Wachstum des indischen Binnenmarktes für Produktions- und Konsumgüter. In diese Zeit fiel die Gründung indischer Rohstoffkonzerne in den Bereichen Öl, Gas, Petroleum, Kohle, Stahl, Aluminium, meist als staatliche Unternehmen, die finanziell und technologisch aber noch vom imperialistischen Ausland abhängig waren.
Der Zusammenbruch der sozialimperialistischen Sowjetunion 1991 war die einschneidende Voraussetzung, damit das internationale Finanzkapital seine neoliberale Politik auch gegenüber Indien durchsetzen konnte. Die »Neue Ökonomische Politik« des Finanzministers Manmohan Singh öffnete Indien durch Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) 1995 dem Weltmarkt. Sie organisierte die Privatisierung des öffentlichen Sektors. Singh förderte in großem Umfang ausländische Investitionen und die Einrichtung einer Vielzahl von Sonderwirtschaftszonen. Im Jahr 2005 wurde der »Special Economic Zones Act« verabschiedet. Seitdem wuchs die Zahl neuer Sonderwirtschaftszonen bis 2017 auf 421, mit 4456 Unternehmen und 1,7 Millionen Beschäftigten.66
Von diesem staatlichen Programm der Privatisierungen und Sonderwirtschaftszonen profitierte auch die indische Monopolbourgeoisie, die bereits über umfangreiches Industrie-, Bank-, Handels- und Agrarkapital verfügte. Der Weltanteil Indiens am Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 1995 und 2007 stetig von 1,2 auf 2,1 Prozent – eine Steigerung um 75 Prozent.
2004, unmittelbar nach der Wahl von Sonia Gandhi zur Ministerpräsidentin, erlebte Indiens Börse den größten Einbruch seit 135 Jahren. Hintergrund war die Sorge des internationalen Finanzkapitals, die Regierung könnte den Weg der Privatisierung verlassen. In dieser Situation drängte die indische Monopolbourgeoisie Gandhi zum »Verzicht« auf das Ministerpräsidentenamt. Die Börse schnellte nach oben, als dann Manmohan Singh Ministerpräsident wurde. Im Konkurrenzkampf der indischen Monopolbourgeoisie mit den internationalen Monopolen um die Kontrolle von Wirtschaft und Staat Indiens gewannen führende indische Monopole mehr und mehr den entscheidenden Einfluss.
Es folgte eine rasante Entwicklung zu einer wachsenden Rolle Indiens auf der Weltbühne. 2006 erkannten die USA Indien offiziell als sechste Atommacht an. Der rasche Aufstieg der Telekommunikation und des Internets verschaffte Indiens Monopolen, die über eine große Anzahl hervorragend ausgebildeter IT-Spezialisten verfügten, besondere Konkurrenzvorteile.
In krassem Gegensatz zu den hochmodernen Industriegebieten sind weite Teile des Landes von großer Armut bestimmt, rückständig und von halbfeudal ländlicher Produktion geprägt. Diese Tatsache verleitet manche linke Ökonomen, den neuimperialistischen Charakter Indiens anzuzweifeln. Lenin sagte 1917 in einer vergleichbaren Situation zum imperialistischen Charakter Russlands:
»In Rußland wäre es überdies auch darum falsch, den Imperialismus als ein einheitliches Ganzes darzustellen (der Imperialismus ist überhaupt kein einheitliches Ganzes), weil es in Rußland noch sehr viele Gebiete und Arbeitszweige gibt, die von der Natural- und Halbnaturalwirtschaft erst zum Kapitalismus übergehen.« (»Materialien zur Revision des Parteiprogramms«, geschrieben April/Mai 1917, Lenin, Werke, Bd. 24, S. 466)
Indische Konzerne verstärken inzwischen die neokoloniale Abhängigkeit anderer Länder. Indian Oil ist der größte Ölproduzent in Sri Lanka.67 Bharti Airtel vereinnahmte 2015 das Mobilfunknetz von 15 afrikanischen Ländern. Das indische Chemiemonopol Reliance Industries, der größte Faser- und Polyesterhersteller der Welt, hat Hauptproduktionsstandorte in der Türkei, Malaysia, China, Großbritannien und den Niederlanden. Die Exporte gehen in 121 Länder.68 Indische Weltmarktführer sind auch Mahindra im Traktorenbau, Wipro im IT-Bereich, Crompton Greaves bei Transformatoren.
Der indische Stahlkonzern ArcelorMittal stieg seit seiner Gründung im Jahr 2007 in kurzer Zeit aggressiv zum größten Stahlproduzenten der Welt auf. Er entstand durch die Übernahme der luxemburgischen Arcelor, dem damals zweitgrößten Stahlkonzern der Welt, durch Mittal Steel. Mit 41 Millionen Jahrestonnen 2016 und 199.000 Beschäftigten weltweit ist er auch Europas größter Stahlproduzent vor dem indischen Monopol Tata Steel, das eine Jahresproduktion von 24 Millionen Tonnen und 70 000 Beschäftigte hat. Unter rücksichtslosen Methoden der Ausbeutung von Mensch und Umwelt arbeiten bei ArcelorMittal auch mehr als 30 000 Kumpel in Kasachstan, der Ukraine, Bosnien, Kanada, den USA, Mexiko, Brasilien und Liberia.69
Als Manmohan Singh mit seinem Programm forcierter Privatisierungen und des Ausbaus von Sonderwirtschaftszonen auf breiten Massenwiderstand stieß, kam 2014 der mit dem Hindu-Faschismus verbundene Narendra Modi an die Regierung. Sein Programm »Make in India« zeichnet sich aus durch Strukturmaßnahmen und Investitionen mit besonderer Förderung der Expansion der indischen Monopole. Dem dienten auch Maßnahmen zum Schutz von Investoren im Ausland und zur Besteuerung der internationalen Monopole. 2016 waren 58 indische Konzerne in die weltweit 2000 größten Unternehmen vorgedrungen, mehr als Deutschland mit 51.70
Der indische Bergbaukonzern Adani investiert 11,5 Milliarden Euro in die Errichtung der Carmichael Kohlemine in Australien – mit einer Jahresförderung von 60 Millionen Tonnen eine der größten Minen der Welt. Zu der Investition gehören auch der Bau einer Bahnlinie und die Pacht für 99 Jahre des Kohlehafens Abbot Point. Die australische Regierung genehmigte dieses größenwahnsinnige Projekt 2017: Es führt zu weiträumiger Grundwasserabsenkung und zerstört das vor der Küste liegende einmalige Ökosystem Great Barrier Reef.71 Die Modi-Regierung betreibt aggressiv den Ausbau von weiteren 370 Kohlekraftwerken und will zehn neue Atomreaktoren bauen.
Modi begründet sein Regierungsprogramm ausdrücklich mit der Hindutva-Ideologie. Sie zielt ab auf ein Reich der Hindu in der »geokulturellen« Einheit des gesamten indischen Subkontinents. Das dient als weltanschauliche Basis für die imperialistischen Ambitionen. Mit völkerrechtswidrigen Blockaden wie 2015, der Förderung separatistischer Bewegungen in der Terai-Region, direkte Einmischung in seine Gesetzgebung soll Nepal in einen hinduistischen Staat unter Vorherrschaft Indiens verwandelt werden. Der Hindu-Nationalismus ist als aggressive antikommunistische Ideologie erklärter Feind der marxistisch-leninistischen und antiimperialistischen Bewegung.
Im Jahr 2016 übertrafen Indiens staatliche Rüstungsausgaben von 55,9 Milliarden US-Dollar bereits die Frankreichs und Großbritanniens. 2013 ging der erste in Indien gebaute Flugzeugträger vom Stapel. 2016 erfolgte der Start des ersten wiederverwendbaren Raumfrachters.
Mit Japan und den USA schloss Modi »strategische«, gegen China gerichtete Bündnisse ab. Da der US-amerikanische Weltherrschaftsanspruch durch China bedroht wird, sind die USA im ostasiatischen Raum auf Indien angewiesen. Dieses zwischenimperialistische Bündnis setzt das eigenständige Interesse Indiens voraus, sich gegen den chinesischen Konkurrenten zu behaupten. Es ist ein zeitweiliges und widersprüchliches Bündnis zum gegenseitigen Vorteil. Die ehemals einseitige Abhängigkeit Indiens von den USA weicht mehr und mehr einer gegenseitigen Durchdringung, auch wenn die imperialistische Supermacht USA nach wie vor den Ton angibt.
Innenpolitisch richtet sich das neue imperialistische Expansionsstreben Indiens vor allem auf die Unterdrückung des Klassenkampfs des Millionenheers des internationalen Industrieproletariats und der Hunderte Millionen umfassenden ländlichen Bevölkerung.