R. Kownator: Die Mutter Lenins (Auszüge)
Lenin zeichneten besondere Fähigkeiten aus, die ihn zum genialen Führer der Arbeiterklasse machten. Die Grundlage dafür bildete sein Elternhaus, in dem wichtige Charakterzüge Lenins, seine Willensstärke und Unbeugsamkeit, wurzeln. Dort wurde er zur Achtung vor den einfachen werktätigen Menschen erzogen. Eine besondere Rolle spielte dabei die Mutter Lenins. Ausführlich beschreibt das die Broschüre von R. Kownator »Die Mutter Lenins«, erschienen 1945 in deutscher Sprache in Moskau, aus der wir Auszüge bringen.
Viele seiner ausgeprägtesten Charakterzüge – die unbeugsame Willenskraft, die außergewöhnliche Ausdauer, die unversiegbare Lebensfreude – erbte Lenin von seiner Mutter, Maria Uljanowa, einer Frau von höchsten sittlichen Eigenschaften, die einen großen, sehr harten Lebensweg zurückzulegen hatte. Lenins Mutter gehörte zu jenem edlen und aufrechten Menschenschlag, den keine noch so schweren Schicksalsschläge zu brechen oder zu beugen vermögen.
Nicht nur zärtlichste Mutterliebe, sondern auch innige Freundschaft und echte Kameradschaft verband Maria Uljanowa mit ihren revolutionären Kindern, insbesondere mit Wladimir, dem »Bergadler der Revolution«.
Maria Alexandrowna Uljanowa, geb. Blank, kam 1835 zur Welt. Sie verlor schon im Kindesalter ihre Mutter. Ihr Vater, Alexander Dmitrijewitsch Blank, war Arzt und gehörte zu den fortschrittlichen Kreisen seines Zeitalters. Nach dem Tode seiner Frau verließ er seine Stellung als Oberarzt in einem der Petersburger Krankenhäuser. Er erwarb einen kleinen Landbesitz im Gouvernement Kasan, wohin er mit seinen Kindern übersiedelte. Hier widmete er sich der Bewirtschaftung seines Bodens und erwies gleichzeitig den Bauern der Umgebung ärztliche Hilfe. Sein Ruf als der eines geschickten und erfahrenen Arztes drang bald über die Grenzen seines Dorfes Kokuschkino hinaus. Selbst aus der Universitätsstadt Kasan kamen Patienten, um sich bei ihm ärztlichen Rat zu holen.
In diesem Dörfchen Kokuschkino verbrachte Maria Blank ihre Kindheit und Jugend. Sie und ihre Geschwister wurden in gestrenger Ordnung zu einfacher und bescheidener Lebensweise erzogen. Die Kinder mußten früh schlafen gehen und früh aufstehen. Im Sommer wurden unbedingt Flußbäder genommen, im Winter gab es kalte Abreibungen. Die Kost war einfach und bekömmlich. Im Winter wie im Sommer trugen die Mädchen Kattunkleidchen mit kurzen Ärmeln und offenem Halsausschnitt. Maria Uljanowa erzählte später ihren Kindern, daß sie und ihre Schwestern im Vaterhause selber die Betten machten, Geschirr wuschen und sonstige Hausarbeit zu verrichten hatten. Diese Erziehung verfolgte das Ziel, die Kinder körperlich abzuhärten und sie auf ein arbeitsames und selbständiges
Leben vorzubereiten.
Maria Alexandrowna war ein sehr begabtes Mädchen und sehnte sich nach höherer Bildung. Doch die geschlossenen Mädchenpensionate jener Zeit waren nicht nach dem Geschmack ihres Vaters, während es andrerseits an Mitteln fehlte, geeignete Privatlehrer ins Haus zu nehmen. Deshalb mußte Maria damit vorliebnehmen, was ihr im häuslichen Kreise und auf dem Wege des Selbstunterrichtes zugänglich war. Sie erlernte drei fremde Sprachen, las sehr viele Bücher und befaßte sich besonders gern mit Musik.
Im Sommer 1863 heiratete Maria den Schullehrer Ilja Nikolajewitsch Uljanow aus der Kreisstadt Pensa. Bald nach der Heirat übersiedelte das junge Paar nach Nischnij-Nowgorod (der jetzigen Stadt Gorki), wohin llja Uljanow auf den Posten eines Gymnasialoberlehrers für Mathematik und Physik berufen wurde.
Ilja Nikolajewitsch Uljanow, der sein Studium nur durch hart abgerungene Spargroschen hatte beenden können, liebte seinen Lehrerberuf über alle Maßen. Er erfreute sich der Liebe und Anhänglichkeit seiner Schülerschar.
Sechs Jahre lang wirkte Ilja Nikolajewitsch am Gymnasium in Nishnij-Nowgorod, einem der belebtesten und wohlbestellten Kulturzentren des damaligen Rußlands.
Doch als er den Posten eines Volksschulinspektors für das Gouvernement Simbirsk angeboten bekam, entschied er sich, seine gute Stellung in Nishnij-Nowgorod aufzugeben und nach dem weitabgelegenen Simbirsk (heute Uljanowsk) zu übersiedeln. Anna, die älteste Schwester Lenins, berichtete später in ihren Lebenserinnerungen über die Beweggründe dieser Übersiedlung, Ilja Nikolajewitsch Uljanow ». . . sehnte sich nach einem breiteren Arbeitsfeld. Er wollte, daß seine Erziehertätigkeit sich nicht auf die Kinder der wohlhabenden Familien beschränke, die das Gymnasium besuchen konnten. Sein Wirken sollte vielmehr denen von Nutzen sein, für die es damals am schwersten war, eine ausreichende Schulbildung zu erwerben, den Kindern jener, die noch gestern Leibeigene waren.« Iljakolajewitsch Uljanow, der selber aus »niederem Stande« hervorgegangen war, wußte aus eigener Erfahrung, wie schwer es dem »gemeinen Mann« gemacht wurde, einen gewissen Bildungsgrad zu erreichen. Er wollte sein Wissen und Können in den Dienst der breitesten Volksbildung stellen. (…)
Im September 1869 übersiedelte die Familie Uljanow nach Simbirsk, wo sie eine Hofwohnung in der Streletzkistraße 10 mietete. Hier kam am 22. April 1870 (10. April alten Stils) Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) zur Welt.
Die ersten Jahre ihrer Simbirsker Zeit waren für Maria Alexandrowna einsam und mühevoll. Ihr Mann war ununterbrochen auf Inspektionsreisen, das Leben in Simbirsk war schwerer als in Nishnij-Nowgorod. Maria Alexandrowna hatte anfänglich in Simbirsk fast keinen Bekanntenkreis und widmete sich ausschließlich dem häuslichen Leben, vor allem der Erziehung ihrer Kinder. Voll reicher Erfindungsgabe und mit vielem Verständnis für den Interessenkreis der Kleinen, behandelte sie die Kinder nicht etwa mit herablassendem Wohlwollen, sondern trat allen Ernstes in deren Gedankenwelt ein und nahm innigen und aufrichtigen Anteil an ihren Spielen und Freuden. (…)
Beide Eltern waren bestrebt, ihre Kinder im fortschrittlichen Geiste ihrer Zeit zu erziehen. Als die Frage aktuell wurde, ob die älteste Tochter Anna auf die Hochschule gehen solle, gab es keine Meinungsverschiedenheiten. Es war selbstverständlich, daß die Tochter das Recht hatte, sich auf die erwünschte Berufsarbeit vorzubereiten.
Alexander, der älteste Sohn der Familie, wuchs als ein in sich gekehrter, schweigsamer Mensch heran. Er hing sehr an seinem Elternhaus, und der Einfluß, den die Mutter von seiner frühen Kindheit an auf ihn hatte, blieb auch später erhalten. (...)
Im Januar 1886 starb unerwartet Ilja Nikolajewitsch Uljanow. Schon längere Zeit vor seinem Tode war er in gedrückter Stimmung. Voll Bitterkeit sprach er oft im häuslichen Kreise von der Absicht der Regierung, die bisherigen Semstwoschulen durch kirchliche Pfarrschulen zu ersetzen. Das bedeutete, daß sein ganzes Lebenswerk mit einem Schlage vernichtet werden sollte.
Die Tätigkeit Ilja Uljanows auf dem Gebiete des Schul- und Erziehungswesens litt in der letzten Zeit immer mehr unter den Verdächtigungen der zaristischen Behörden, was ihm schweren Kummer bereitete. Er stand vor der Aussicht, sein geliebtes Arbeitsfeld verlassen zu müssen, was überdies bedeutete, daß er, der Ernährer einer vielköpfigen Familie, eines Tages ohne die notwendigen Mittel bleiben würde. (…)
Maria Alexandrowna hatte sich noch nicht von dem schweren Leid erholt, als sie ein neuer, noch viel härterer Schlag ereilte: die Verhaftung und bald darauf die Hinrichtung ihres Sohnes Alexander. Als erster erfuhr Wladimir Iljitsch von der Verhaftung. Darüber schreibt die Lehrerin Kaschkadamowa in ihren Erinnerungen folgendes:
»Im März 1887 erhielt ich von meiner Verwandten Peskowskaja aus Petersburg einen Brief, in welchem sie mir mitteilte, daß Alexander Iljitsch an der Verschwörung gegen den Zaren Alexander III. beteiligt war und daß er und Anna Iljinitschna verhaftet wurden. Sie bat mich, Maria Alexandrowna schonend zu verständigen. Gleich nach Erhalt des Briefes ließ ich Wladimir, der damals bereits Oberprimaner war, aus dem Gymnasium rufen, um mit ihm zu Rate zu gehen. Ich teilte ihm mit, was im Briefe stand, und ließ ihn selber den Inhalt lesen.
Wladimir Iljitsch dachte angestrengt nach und schwieg vorerst eine ganze Weile. Vor mir saß nicht mehr der einstige sorglose und lebenslustige Knabe, sondern ein reifer, erwachsener Mensch, der in tiefes Nachsinnen über eine wichtige Frage versunken war. ›Das ist doch eine ernste Angelegenheit‹, sagte er, ›die für Sascha ein schlimmes Ende nehmen kann.‹
Wir beschlossen, daß er der Mutter von dem Briefe Mitteilung machen solle, ohne ihr indes zu enthüllen, wieweit Alexander in die Angelegenheit verwickelt sei. Am Abend sollte ich dann ins Haus kommen und zusammen mit Wladimir der Mutter alles erzählen. Aber es war kaum eine Stunde vergangen, als Maria Alexandrowna bei mir erschien. Sie war blaß, ernst und bereit, diese neue Last auf ihre schwachen Schultern zu nehmen.
›Geben Sie mir den Brief‹, sagte sie beherzt. Als sie den Brief gelesen hatte, erklärte sie mit fester Stimme: ›Ich fahre noch heute, bitte, besuchen Sie die Kinder während meiner Abwesenheit.‹ Gleich darauf verabschiedete sie sich schweigend.« (…)
Die Anklage gegen Alexander Iljitsch lautete auf Teilnahme an der Vorbereitung zum Zarenmord »in der Strafsache des 1. März 1887«. In Petersburg wurde es Maria Alexandrowna klar, daß ihrem Sohne die Todesstrafe droht. Als zärtliche Mutter, die ihren Sohn innig liebte, richtete sie in ihrer Verzweiflung ein Schreiben an den Zaren. Der gekrönte Feldwebel kritzelte auf diesen Brief die Notiz: »Es wäre erwünscht, ihr einen Besuch im Gefängnis zu gestatten, daß sie sich selbst davon überzeuge, welch saubere Person ihr famoses Söhnchen ist …« Die zaristischen Oberschergen versäumten es nicht, diese »allerhöchste Willenskundgebung« zu deuten. Noch am selben Tage, dem 30. März 1887, schickte der Innenminister Graf Tolstoi folgendes dienstliche Schreiben an den Direktor des Polizeidepartements, Durnowo: »Könnte nicht die vom Zaren allergnädigst an die Uljanowa erteilte Erlaubnis eines Gefängnisbesuches bei ihrem Sohn dazu benutzt werden, daß sie ihn überrede, offenherzige Aussagen zu machen, insbesondere darüber, wer außer den Studenten diese ganze Sache ins Werk setzte. Mir scheint, das könnte gelingen, wenn die Mutter erst kunstgerecht behandelt würde.«
Durnowo verfügte daraufhin: »Frau Uljanowa für morgen 12 Uhr zu mir vorladen.«
Um was sich die Unterredung Durnowos mit Maria Uljanowa drehte, ist nicht schwer zu erraten, doch sie führte zu keinem der vom Zaren und seinem Minister erwünschten Ergebnisse. (…)
Alexander Uljanow wurde zum Tode verurteilt.
Als die schwergeprüfte Mutter nach der Urteilsverkündung den Sohn im Gefängnis besuchte, bat sie ihn, ein Gnadengesuch einzureichen. Doch er erwiderte: »Nach alledem, was ich vor Gericht gestand, kann ich so etwas nicht tun, es wäre unaufrichtig.«
Einige der Mitangeklagten Alexander Uljanows, die ein Gnadengesuch eingereicht hatten, wurden wirklich begnadigt, aber das galt nicht für Uljanow, der auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden, warum er denn nicht ins Ausland emigriert sei, antwortete: »Ich wollte für mein Vaterland sterben.« Auch die Mutter sah ein, daß es nicht zulässig war, das Leben durch Schmach zu erkaufen. Als der Sohn ihr auseinandersetzte, daß er außerstande sei, eine falsche, unaufrichtige, heuchlerische Erklärung abzugeben, begriff sie, daß Ehrlosigkeit schlimmer sei als der Tod.
In Petersburg verbreitete sich plötzlich das Gerücht, daß das Todesurteil nicht vollstreckt werden würde. Das liebende Mutterherz klammerte sich an die Hoffnung. Sie hatte noch einmal Gelegenheit, ihren Sohn in der Peter-Pauls-Festung zu besuchen. Sie standen einander gegenüber, getrennt durch zwei Eisengitter, zwischen denen ein Gendarm hin und her ging. Sie durfte dem Sohne nichts überbringen. »Nur Mut!«, rief sie ihm zweimal zum Abschied zu. Das waren die letzten Worte, die sie an ihren Sohn richtete. Das Gerücht von einer bevorstehenden Aufhebung des Todesurteils bestätigte sich nicht. (…)
Maria Uljanowa brach unter den schweren Schicksalsschlägen nicht zusammen. Sie hatte noch für die anderen Kinder zu sorgen. Um ihretwillen mußte sie weiterleben.
Und bei den Kindern waren bereits die Charakterzüge der Mutter wiederzuerkennen, ihr unbeugsamer Geist, ihre Willensstärke. Schon damals, noch bevor er das Gymnasium beendet hatte, wiederholte Lenin, wenn von seinem älteren Bruder die Rede war, immer wieder: »So mußte er eben handeln, er konnte nicht anders.« Eine Freundin von Olga Iljinitschna, Lenins jüngerer Schwester, erzählte, daß Olga eine im Gefängnis aufgenommene Photographie Alexander Uljanows in die Schule mitbrachte. »Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, doch sie zeigte eine seltene Selbstbeherrschung. Kein einziger ihrer Gesichtsmuskeln verriet auch nur im geringsten, wie schwer sie selbst litt.«
Das weitere Leben in Simbirsk wurde für die Uljanows unerträglich. Fast alle Bekannten wandten sich von ihnen ab. Bei jeder Gelegenheit bekam Maria Alexandrowna zu hören, daß ihr Sohn sich eines schweren Staatsverbrechens schuldig gemacht habe. Maria Alexandrowna beschloß, in eine andere Stadt zu übersiedeln.
Das Schicksal des älteren Bruders hatte auf Wladimir Iljitsch einen tiefen Eindruck gemacht. Er dachte über all die Ereignisse gründlich nach und beschloß, daß er selber notwendigermaßen ebenfalls den Weg des revolutionären Kampfes beschreiten muß. Aber er begriff bereits, daß der Weg der individuellen Terroranschläge, den sein älterer Bruder gewählt hatte, unrichtig war und nicht zum Sturz des Zarismus führen konnte. In jene Zeit fällt das bekannte Zwiegespräch zwischen Lenin und dem Kasaner Polizeiinspektor. Der Polizeiinspektor hielt es für angebracht, Lenin zur Vernunft zu ermahnen. »Warum rebellieren Sie, junger Mann«, sagte der Polizist, »sehen Sie denn nicht, daß vor Ihnen sich eine Wand erhebt?«
»Eine Wand, aber eine morsche«, erwiderte Lenin, »wenn man gegen sie anstößt, wird sie einstürzen!«