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Über die Vulgarisierung des Materialismus in der Arbeiterbewegung

Das Verhältnis des Geistes zur Natur ist die Grundfrage jeder Weltanschauung. Friedrich Engels schreibt dazu in »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«:

»Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen (...) bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des Materialismus.«1

Die verschiedenen Varianten der bürgerlichen Ideologie sind weltanschaulich dem Idealismus zuzuordnen. Dieser verklärt die objektiven Verhältnisse in Natur und Gesellschaft, weil er die Wirklichkeit nicht aus den ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten ableitet, sondern nach einem ausgedachten Ideal beurteilt. So funktioniert die heutige Wirtschaft nach bürgerlicher Lesart nach dem Ideal der »sozialen Marktwirtschaft«. Wirtschaftskrisen liegen demnach keine Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zugrunde, sondern sie werden dem mangelnden politischen Geschick der jeweiligen Regierung zugeschrieben. Diese idealistische Deutung zielt darauf ab, daß trotz des unvermeidbaren, offensichtlichen Bankrotts der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht gleich die Gesellschaft grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Die Ideale der Menschen sind lediglich die Widerspiegelung materieller, wirklicher Prozesse in Natur und Gesellschaft. Wie in jeder Klassengesellschaft ist auch im Kapitalismus jede Idee der Interessenlage einer bestimmten Klasse zugeordnet:

  • Die bürgerliche Ideologie widerspiegelt die Interessen der Bourgeoisie an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaft;
  • die proletarische Ideologie widerspiegelt das Interesse des Proletariats an der Abschaffung der kapitalistischen Verhältnisse und einer Gesellschaft, die von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen befreit ist.

Die bürgerliche Ideologie ist reaktionär, weil sie die herrschenden Verhältnisse rechtfertigt, vertuscht und schönredet. Die proletarische Weltanschauung ist an der vollständigen Aufdeckung der Wahrheit und der revolutionären Veränderung der Gesellschaft interessiert. Sie folgt dem materialistischen Grundsatz: »Das Sein bestimmt das Bewußtsein«.

Über diesen Grundsatz der materialistischen Weltanschauung gibt es in der internationalen marxistisch-leninistischen und Arbeiterbewegung zweifellos eine große Übereinstimmung. Aber es gibt auch eine ausgeprägte Tendenz, den Gesamtzusammenhang von Sein und Bewußtsein auf eben diesen materialistischen Grundsatz zu reduzieren. Das führt in der Konsequenz zu einer vulgärmaterialistischen Deutung, nach der sich die Wirklichkeit unmittelbar, d.h. mechanisch im Bewußtsein der Menschen widerspiegeln würde, sozusagen als einfache Kausalität von Sein als Ursache und dem Bewußtsein als Wirkung.

Eine der exponiertesten Vertreterin dieser Richtung in Deutschland ist die KPD (Roter Morgen)*. In der letzten Ausgabe ihrer Zeitschrift können wir zum neuen Programmentwurf der MLPD lesen:

»Was auch immer die MLPD unter Denkweise verstehen mag, jedenfalls hat letztere ja wohl etwas mit dem Denken zu tun und folglich mit dem Bewußtsein.«2

Volltreffer! Die Denkweise hat etwas mit dem Denken zu tun und folglich auch mit dem Bewußtsein Aber dennoch sind es mit Recht unterschiedliche Kategorien, mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung. Das Bewußtsein hat immer einen Inhalt und eine Methode, mit der es zu seinen inhaltlichen Erkenntnissen kommt und mit der es diese Erkenntnisse in der Praxis zur Anwendung bringt. Diese Methode ist die Denkweise. Es liegt auf der Hand, daß die Denkweise deshalb gleicherweise etwas mit der Praxis zu tun hat. So wie der Mensch denkt, so handelt er auch. Oder wie es Marx formuliert: Alles, was der Mensch tut, muß vorher durch seinen Kopf.

Warum hat der »Rote Morgen« jedoch die Denkweise ausschließlich dem Bewußtsein zugeschlagen und ihren Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Sein geleugnet? Weil er in einer völlig idealistischen, dogmatischen Vorstellung über das Verhältnis von Sein und Bewußtsein befangen ist. Er begreift nicht, daß Sein und Bewußtsein nur in ihren philosophischen Kategorien, also zur theoretischen Klärung, einer so scharfen Trennung unterliegen. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden sie identisch als materieller Prozeß des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns. Dazu schreibt Lenin in seiner Schrift »Materialismus und Empiriokritizismus«:

»Freilich ist auch der Gegensatz zwischen Materie und Bewußtsein nur innerhalb sehr beschränkter Grenzen von absoluter Bedeutung: im gegebenen Fall ausschließlich in den Grenzen der erkenntnistheoretischen Grundfrage, was als primär und was als sekundär anzuerkennen ist. Außerhalb dieser Grenzen ist die Relativität dieser Entgegensetzung unbestreitbar. (...) Außerhalb dieser Grenzen mit der Gegensätzlichkeit von Materie und Geist, von Physischem und Psychischem als mit einer absoluten Gegensätzlichkeit zu operieren, wäre ein gewaltiger Fehler.«3

Natürlich hat alles, was sich im menschlichen Bewußtsein widerspiegelt, letztlich seine Ursache in der materiellen Wirklichkeit. Für die Roter-Morgen-Gruppe scheint es aber unfaßbar, daß das menschliche Bewußtsein nur existiert, um die Menschheit zu befähigen, auf Natur und Gesellschaft Einfluß zu nehmen. Dazu schreibt Marx in seinen berühmten »Thesen über Feuerbach«:

»Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß.«4

Was die Marxisten-Leninisten von den urwüchsigen Materialisten der antiken Griechen oder den mechanischen Materialisten des Mittelalters unterscheidet, ist die Deutung des Zusammenhangs von Sein und Bewußtsein als universelle dialektische Wechselbeziehung.

Der »Rote Morgen« fährt fort:

»Für MarxistInnen aber ist das Bewußtsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt. Folglich muß in erster Linie das gesellschaftliche Sein untersucht werden um Rückschlüsse auf das Bewußtsein ziehen zu können.«5

Niemand wird bezweifeln, daß es notwendig ist, das Bewußtsein auf seine materielle Basis in Natur und Gesellschaft zurückzuführen. Es ist aber völlig absurd, allein aus der objektiven Analyse der Gesellschaft kausal Schlüsse für das Klassenbewußtsein der Arbeiterklasse ziehen zu wollen. Die einfache Kausalität zwischen Sein und Bewußtsein kann die komplizierten Zusammenhänge des staatsmonopolistischen Kapitalismus nicht einmal annähernd richtig erfassen.

Um sich nicht weiter der Lächerlichkeit preiszugeben, sollten sich die Autoren des »Roten Morgen« folgenden Satz von Friedrich Engels hinter die Ohren schreiben:

»Die Herausarbeitung der Methode, die Marx' Kritik der politischen Ökonomie zugrunde liegt, halten wir für ein Resultat, das an Bedeutung kaum der materialistischen Grundanschauung nachsteht.«6

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß das Klassenbewußtsein der Arbeiterklasse hinter der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben ist, also im Widerspruch zu der krisenhaften Entwicklung der Gesellschaft steht. Es ist weiter unbestreitbar, daß dieselbe praktische Erfahrung auf die einzelnen Arbeiter zum Teil völlig unterschiedlich wirkt. Der eine setzt sich z.B. nach einer Ankündigung von Massenentlassungen für den gemeinsamen Kampf um jeden Arbeitsplatz ein, der andere verzichtet auf diesen Kampf und sucht für sich nach einem individuellen Ausweg. Die Ursache für diese Widersprüchlichkeit liegt in der klassenmäßig bedingten Denkweise begründet, mit der die Arbeiter ihre Erfahrungen verarbeiten.

Die Kritik am Einfluß des Vulgärmaterialismus ist heute, wie an jedem bedeutenden Wendepunkt in der Geschichte der Arbeiterbewegung, zu einer theoretischen und praktischen Kernfrage für einen neuen Aufschwung im Kampf um den Sozialismus geworden. Im REVOLUTIONÄREN WEG 26 mit dem Titel »Der Kampf um die Denkweise in der Arbeiterbewegung« heißt es:

»Das Bewußtsein kann nur mit Hilfe einer dialektisch-materialistischen Denkweise mit der objektiven Wirklichkeit in Übereinstimmung kommen.«7

Darin liegt gerade die Notwendigkeit der Lehre von der Denkweise, daß sie wissenschaftlich die dialektischen Bewegungsgesetze aufdeckt, die in der Entwicklung des Klassenbewußtseins der Arbeiterklasse wirken, um in Übereinstimmung mit der objektiven Wirklichkeit zu kommen: »Die Lehre von der Denkweise behandelt die Entwicklungsgesetze des menschlichen Denkens bei der Herausbildung des proletarischen Klassenbewußtseins und seiner Höherentwicklung zum sozialistischen Bewußtsein.«8